Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing
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———Eu!
Rem poteris servare tuam!—
Wichtigere? Eintraeglichere; das gebe ich zu! Eintraeglich ist freilich unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Kuensten in Verbindung stehet. Aber,
—haec animos aerugo er cura peculi Cum semel imbuerit—
Doch ist vergesse mich. Wie gehoert das alles zur "Zelmire"?
Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward Komoediant. Er spielte einige Zeit unter der franzoesischen Truppe zu Braunschweig, machte verschiedene Stuecke, kam wieder in sein Vaterland und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so gluecklich und beruehmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit haette machen koennen, wenn er auch ein Beaumont geworden waere. Wehe dem jungen deutschen Genie, das diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei wuerden sein gewissestes Los sein!
Das erste Trauerspiel des Du Belloy heisst "Titus"; und "Zelmire" war sein zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal gespielt. Aber "Zelmire" fand desto groessern; es ward vierzehnmal hintereinander aufgefuehrt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung.
Ein franzoesischer Kunstrichter[1] nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung ueberhaupt zu erklaeren: "Uns waere", sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die Jahrbuecher der Welt sind an beruechtigten Verbrechen ja so reich; und die Tragoedie ist ja ausdruecklich dazu, dass sie uns die grossen Handlungen wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, dass 'Zaire', 'Alzire', 'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung waeren. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreuzzuege gegeben, in welchen sich Christen und Tuerken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, hassten und wuergten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die gluecklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europaeischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwaermerei und der wahren Religion aeussern muessen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betruegers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schoenste philosophische Gemaelde, das jemals von diesem gefaehrlichen Ungeheuer gemacht worden."
——Fussnote
[1] "Journal Encyclopedique", Juillet 1762.
——Fussnote
Neunzehntes Stueck
Den 3. Julius 1767
Es ist einem jeden vergoennt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist ruehmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gruenden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit haette, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen muesste, heisst aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angefuehrte franzoesische Schriftsteller faengt mit einem bescheidenen "Uns waere lieber gewesen" an und geht zu so allgemein verbindenden Ausspruechen fort, dass man glauben sollte, dieses Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.
Nun hat es Aristoteles laengst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekuemmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel aehnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, dass er sie schwerlich zu seinem gegenwaertigen Zwecke besser erdichten koennte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefaehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbuecher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Muehe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Moeglichkeit, dass etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine gaenzlich erdichtete Fabel fuer eine wirklich geschehene Historie zu halten, von der wir nie etwas gehoert haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwuerdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Ueberlieferungen bestaetiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenommen, dass es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das Andenken grosser Maenner zu erhalten; dafuer ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstaenden tun werde. Die Absicht der Tragoedie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heisst sie von ihrer wahren Wuerde herabsetzen, wenn man sie zu einem blossen Panegyrikus beruehmter Maenner macht, oder sie gar den Nationa1stolz zu naehren missbraucht.
Die zweite Erinnerung des naemlichen franzoesischen Kunstrichters gegen die "Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, dass sie fast nichts als ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufaelle sei, die in den engen Raum von vierundzwanzig Stunden zusammengepresst, aller Illusion unfaehig wuerden. Eine seltsam ausgesparte Situation ueber die andere! ein Theaterstreich ueber den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so draengen, koennen schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles ueberrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als ueberraschen. "Warum muss sich z.E. der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Faellt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemuetsaenderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrueckt. Welch geringfuegige Ursachen gibt hiernaechst der Dichter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muss Polydor, wenn er aus der Schlacht koemmt und sich wiederum in dem Grabmale