Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing
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Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr: "Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stueck nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der naemlichen Ausgabe seiner Werke heisst er auf einem Blatte "Das besiegte Vorurteil"; und auf dem andern "Der Mann ohne Vorurteil". Doch beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, dass zu einer vernuenftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar Stuecke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein grosses Glueck gemacht hatten. Die "Pamela" des Boissy und des de la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stuecke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen.
"Nanine" gehoert unter die ruehrenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel laecherliche Szenen, und nur insofern, als die laecherlichen Szenen mit den ruehrenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komoedie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komoedie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal laechelt, wo man nur immer weinen moechte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Uebergang von dem Ruehrenden zum Laecherlichen und von dem Laecherlichen zum Ruehrenden sehr natuerlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine bestaendige Kette solcher Uebergaenge, und die Komoedie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. "Was ist gewoehnlicher", sagt er, "als dass in dem naemlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich ueber beide aufhaelt und jeder Anverwandte bei der naemlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan aeusserst bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben Viertelstunde ueber ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwuerdige Matrone sass bei einer von ihren Toechtern, die gefaehrlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Traenen zerfliessen, sie rang die Haende und rief: 'O Gott, lass mir, lass mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafuer nehmen!' Hier trat ein Mann, der eine von ihren uebrigen Toechtern geheiratet hatte, naeher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Aermel und fragte: 'Madame, auch die Schwiegersoehne?' Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betruebte Dame, dass sie in vollem Gelaechter herauslaufen musste; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hoerte, waere vor Lachen fast erstickt."
"Homer", sagt er an einem andern Orte, "laesst sogar die Goetter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, ueber den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht ueber die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heissesten Traenen vergiesst. Es trifft sich wohl, dass mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhaengnisses, ein Einfall, eine ungefaehre Posse, trotz aller Beaengstigung, trotz alles Mitleids das unbaendigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem Regimente, dass es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: 'Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmoeglich dienen!' Diese Naivetaet ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komoedie das Lachen auf ruehrende Empfindungen folgen koennen? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen."
Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komoedie fuer eine ebenso fehlerhafte als langweilige Gattung erklaeret? Vielleicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine "Cenie", noch kein "Hausvater" vorhanden; und vieles muss das Genie erst wirklich machen, wenn wir es fuer moeglich erkennen sollen.
——Fussnote
[1] "De Officiis", Lib. I. Cap. 33.
——Fussnote
Zweiundzwanzigstes Stueck
Den 14. Julius 1767
Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der "Advokat Patelin" wiederholt, und mit der "Kranken Frau" des Herrn Gellert beschlossen.
Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stuecke das meiste urspruenglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemaelde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Muehmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, dass es an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und dass nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir ueber viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere Virtuosen an eine allzu flache Manier gewoehnet. Sie machen sie aehnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewusst, so mangelt dem Bilde die Rundung, das Koerperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Aussenlinien uns gleich an die Taeuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die uebrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wann sie belustigen sollen, muss ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muss sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachlaessigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihren vier Pfaehlen herumtraeumen. Sie muessen nichts von der engen Sphaere kuemmerlicher Umstaende verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten will. Er muss sie aufputzen; er muss ihnen Witz und Verstand leihen, das Armselige ihrer Torheiten bemaenteln zu koennen; er muss ihnen den Ehrgeiz geben, damit glaenzen zu wollen.
"Ich weiss gar nicht", sagte eine von meinen Bekanntinnen, "was das fuer ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muss seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstaende machen! Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar grosses Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muss ja wohl."
"Ganz gewiss!" sagte eine andere. "Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Muetter. Eine Andrienne! Welche Schneidersfrau traegt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, dass die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse"—(ich habe die andern Namen vergessen, ich wuerde sie auch nicht zu schreiben wissen)—"dafuer sagen! Mich in einer Andrienne zu denken; das allein koennte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muss es auch die neueste Tracht sein. Wie koennen wir es sonst wahrscheinlich finden, dass sie darueber krank geworden?"
"Und ich", sagte