Metaphysik. Aristoteles
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Das zwölfte Problem
In enger Beziehung dazu steht ein weiteres Bedenken. Sind Zahlen, Körper, Flächen, Punkte selbständige Wesenheiten oder nicht? Sind sie es nicht, so bleibt unerklärt, was denn nun das Seiende ist, und welches die Wesenheiten im Seienden sind. Denn Beschaffenheiten, Bewegungen, Relationen, Zustande, Verhältnisse bezeichnen, so muß man doch wohl annehmen, nicht die Wesenheit irgend eines Gegenstandes. Sie bilden sämtlich Prädikate zu einem Substrat, aber keines von ihnen bezeichnet einen konkreten Gegenstand selber. An den Dingen aber, die am meisten dafür gelten könnten, selbständige Wesenheiten zu bedeuten, an Wasser, Erde, Feuer, Luft, den Bestandteilen der zusammengesetzten Körper, treten Wärmeund Kältezustände und anderes derart als Bestimmungen auf, nicht als selbständige Wesen, und der Körper also, dem diese Bestimmungen zufallen, bleibt allein als ein Seiendes und ein selbständiges Wesen übrig. Andererseits aber ist der Körper selbständige Wesenheit in geringerem Grade als seine Oberfläche; diese ist es in geringerem Maße als die Linie, und diese wieder in geringerem Maße als die Einheit und der Punkt. Denn von diesen empfängt der Körper erst seine Bestimmtheit, und sie, so scheint es, können wohl ohne die Körper existieren, wogegen der Körper ohne sie undenkbar ist.
Daher kommt es, daß, wenn die große Masse, und wenn auch die älteren Denker als selbständige Wesenheit und als das Seiende nur den Körper und das andere als Bestimmungen des Körpers betrachten und man denn auch die Prinzipien, die für das Körperliche gelten, für die Prinzipien des Seienden überhaupt erklärte, neuere Denker, denen man tiefere Einsicht zugeschrieben hat, dafür die Zahlen setzten. Nach unseren obigen Darlegungen nun gibt es, wenn die genannten Dinge keine selbständigen Wesenheiten sind, überhaupt keine selbständige Wesenheit und nichts Seiendes. Denn was als bloße Bestimmung an jenen auftritt, das hat doch keinerlei Anspruch darauf, ein Seiendes genannt zu werden.
Dagegen andererseits, wenn zugegeben wird, daß Linien und Punkte in höherem Grade selbständige Wesen sind als die Körper, und wir doch nicht recht sehen, was das für eine Art von Körpern ist, an denen sie auftreten - denn daß es die sinnlich wahrnehmbaren Körper seien, ist ausgeschlossen - so würde es überhaupt keine selbständige Wesenheit geben. Überdies stellt sich alles dieses augenscheinlich als bloße Teilungen des Körpers dar, teils nach der Breite, teils nach der Tiefe, teils nach der Länge. Dazu kommt, daß in dem Körper jede beliebige Gestalt oder auch keine enthalten ist. Wenn im Stein nicht der Hermes, so ist auch im Würfel nicht die Hälfte des Würfels als ein bestimmter Teil enthalten, und ebenso auch nicht die Fläche. Denn wenn irgend eine vorhanden wäre, dann wäre auch die vorhanden, die die Hälfte abgrenzt. Dasselbe gilt mit Bezug auf Linie, Punkt, Einheit. Wenn also noch so sehr der Körper selbständige Wesenheit wäre, die genannten Dinge aber, denen doch keinerlei selbständige Wesenheit zukommt, es in noch höherem Sinne wären, dann ist unfaßbar, was das Seiende ist und was das Wesen des Seienden.
Zu dem bisher Ausgeführten kommen nämlich noch weitere Undenkbarkeiten hinzu, die sich aus den Begriffen des Entstehens und Vergehens ergeben. Ein Wesen, wenn es erst nicht war und dann ist, oder wenn es erst war und nachher nicht mehr ist, erfährt, so sollte man annehmen, solche Veränderung in der Form des Entstehens und Vergehens. Punkte aber, Linien und Flächen können weder entstehen noch vergehen, obgleich sie doch jetzt sind, jetzt nicht sind. Wenn zwei Körper sich berühren oder ein Körper geteilt wird, so wird zugleich das eine Mal bei der Berührung aus zweien eines, das andere Mal bei der Trennung aus einem zwei. Es ist also, wenn die Verbindung hergestellt wird, das was vorher war, nicht mehr vorhanden, sondern verschwunden, und wenn Trennung eintritt, ist das vorhanden, was vorher noch nicht war. Und gar erst der Punkt, der unteilbar ist! Der ist doch wohl dabei nicht in zwei geteilt worden. Wenn sie aber entstehen und vergehen, so ist etwas vorhanden, woraus sie entstehen. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem zeitlichen Jetzt. Auch dies kann nicht entstehen oder vergehen, und dennoch macht es den Eindruck, immer ein anderes zu sein, während es doch kein selbständiges Wesen hat. Offenbar ist es mit Punkten, Linien und Flächen dieselbe Sache; das Verhältnis ist ganz dasselbe. Denn alles das hat dieselbe Bedeutung, entweder von Grenzen oder von Teilungen.
Das dreizehnte Problem
Überhaupt aber darf man die Frage aufwerfen, aus welchem Grunde man denn eigentlich sich nach etwas anderem neben den sinnlichen Dingen und denen, die zwischen Sinnlichem und Intelligiblem ein Mittleres bilden, umsehen muß, warum also z.B. nach Ideen, wie wir als Platoniker sie setzen. Geschieht es vielleicht deshalb, weil die mathematischen Gegenstände sich von den sinnlich irdischen Dingen zwar in anderer Beziehung unterscheiden, aber darin nicht unterscheiden, daß jede Art derselben (z.B. das Dreieck) in einer unbestimmten Anzahl von Exemplaren vorkommt? Die Prinzipien für dieselben existieren deshalb nicht in bestimmter Anzahl, und es ist damit ebenso wie mit den Buchstaben, den Prinzipien für unsere sinnlichen Sprachlaute; auch die kommen alle zusammen gleichfalls nicht in bestimmter Zahl vor, wohl aber sind sie nach bestimmten Arten unterschieden. Man darf dabei nur nicht an die Laute dieser einen Silbe oder Lautgruppe denken, wie sie dies eine Mal an dieser Stelle steht; denn da freilich wird auch die Zahl der Buchstaben eine bestimmte sein. Gerade so nun geht es auch bei jenem »Mittleren«, den mathematischen Objekten; denn auch hier befaßt jedesmal eine Gattung eine unbestimmte Anzahl von Exemplaren unter sich. Wenn es daher nicht neben den sinnlichen Dingen und jenen mittleren noch irgend ein anderes gibt von der Art, wie die Ideen im Sinne der platonischen Schule, so gibt es überall keine Wesenheit, die der Zahl und der Gattung nach einheitlich wäre, und auch die Prinzipien des Seienden würden dann nicht in bestimmter Anzahl, sondern nur in bestimmten Arten existieren. Ist nun dieses die notwendige Konsequenz, so ist man auch, um sie zu vermeiden, zur Annahme von Ideen gezwungen. Zugegeben auch, daß diejenigen, die diese Lehre aufgestellt haben, sie keineswegs klar genug zu begründen wissen, so ist es doch eben das Bezeichnete, was ihnen im Gedanken vorschwebt, und der Sinn, den sie mit ihrer Lehre verbinden, ist notgedrungen der, daß die Ideen jegliche eine Wesenheit für sich bilden und keine eine bloße Bestimmung an einem anderen darstellt. Aber allerdings, geben wir die Existenz der Ideen zu und lassen wir es gelten, daß die Prinzipien, jedes als numerisch eines, aber nicht als eine Art, nur einmal vorkommend existieren, so haben wir oben ausgeführt, welche Undenkbarkeiten sich aus einer solchen Annahme mit Notwendigkeit ergeben.
Das vierzehnte Problem
Eng verwandt mit diesen Fragen ist das fernere Problem, ob die Elemente bloß der Potentialität nach existieren oder in anderem Sinne, also der Aktualität nach. Existieren sie irgendwie in letzterer Weise, so gibt es etwas anderes, was für die Prinzipien das Vorausgegebene bildet. Denn das Wirkliche setzt das Mögliche als vorausgegeben voraus; dagegen ist es nicht notwendig, daß alles was möglich ist, auch in jenen Zustand der Aktualität übergehe. Andererseits, wenn die Elemente nur der Möglichkeit nach existieren, so bleibt es immer möglich, daß nichts sei von allem was ist. Denn möglich ist das Sein auch dessen, was noch nicht ist; was wird, das ist noch nicht. Dagegen wird nichts wirklich, dessen Sein nicht möglich ist.
Das fünfzehnte Problem
Dies sind die Schwierigkeiten, die man betreffs der Prinzipien ins Auge fassen muß; dazu kommt aber noch die weitere Frage, ob sie als Allgemeines existieren oder nach Art dessen, was man als Einzelwesen bezeichnet. Haben sie die Natur des Allgemeinen, so sind sie keine selbständigen Wesen; denn kein Allgemeines bezeichnet einen konkreten Gegenstand, sondern einen Artcharakter; selbständige Wesenheit aber heißt konkreter Gegenstand. Existiert aber das Prinzip als konkreter Gegenstand, und wird das was man als Allgemeines aussagt, als selbständig Seiendes aufgefaßt, so wird aus Sokrates eine Vielheit von Lebewesen: er wird erstens er selbst als Einzelperson, zweitens Mensch und drittens lebendes Wesen sein, falls nämlich jeder dieser Begriffe einen als Einheit für sich bestehenden Gegenstand bezeichnet. Das sind die Konsequenzen, wenn man