Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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Kapitalismus, was tun? - Sahra  Wagenknecht

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Neuverschuldung auf Null zu senken, auf das Jahr 2002 bezogen. Als klar wurde, dass dies an der Realität der europäischen Länder vorbeiging, wurde auf 2004 verschoben.

      Im Herbst 2002 sprach sich erneut bis Brüssel herum, dass Deutschland, Frankreich, Italien und Portugal unverändert tief in den Miesen stecken. Also beschloss die EU-Kommission, die Frist bis 2006 zu verlängern. Es gab ein bisschen Gezänk, aber die Entscheidung stand nie wirklich in Frage. Alles spricht dafür, dass die gleiche Kommission im Herbst 2004 wieder tagen und wieder verlängern wird – so es den Pakt bis dahin überhaupt noch gibt.

      Es wäre allerdings ein Fehler, diese Taktik als Schwäche des Neoliberalismus zu werten. Bezogen auf das Konsolidierungsdogma gilt ausnahmsweise der alte Bernstein wirklich: Der Weg ist das Ziel. Es interessiert das Kapital herzlich wenig, ob die öffentlichen Haushalte dieser Welt hoch oder niedrig verschuldet sind. Der einzig interessierende Punkt ist, ob sie ihren Zins- und Tilgungspflichten nachkommen können. Ob dies bei Fortsetzung der alten Schuldenpolitik für einige europäische Länder mit Einführung des Euro (der die Möglichkeit, Zahlungen notfalls durch Ingangsetzen der nationalen Notenpresse zu leisten, ausschließt) hätte schwierig werden können, mag strittig sein. Inzwischen steht es für kein Land im Euroraum mehr infrage.

      Noch mehr als die allgemeine Zahlungsfähigkeit interessierte das europäische Kapital zu Beginn der Neunziger, als die Gemeinschaftswährung ausgeheckt wurde, allerdings ein anderer Punkt: Die Verbesserung seiner Verwertungsbedingungen. Denn in seinen Augen hatten die westeuropäischen Staaten zu Kalten Kriegszeiten erheblichen Sozialspeck angesetzt – also Dinge wie Kündigungsschutzbestimmungen, Mindestlöhne, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung, Zahlungen an Arbeitslose, Sozialhilfe usw. – und dieser »Speck« war nach dem Ende der Systemkonkurrenz unter Profitgesichtspunkten überflüssig geworden.

      Eine Politik indes, die sich der Ausrottung all dessen verschrieb, war aus naheliegenden Gründen unpopulär und daher nicht leicht durchsetzbar. Der tiefere Sinn von Maastricht-Kriterien und Stabilitätspakt bestand also darin, den europäischen Regierungen, die ja alle immer irgendwann wiedergewählt werden wollen, die Umsetzung zu erleichtern. Dank der Verträge von Maastricht und Amsterdam konnten sie bei jeder sozialen Brutalität auf einen Buhmann in Brüssel verweisen, der sie – womöglich gegen ihren Willen – zu derartigen Missetaten zwang. Auch wenn es mit der Wiederwahl in vielen Fällen dennoch nicht geklappt hat, hinsichtlich der Missetaten war der Stabilitätspakt europaweit außerordentlich erfolgreich. Wenn er morgen aufgekündigt wird, dann, weil sein eigentliches Ziel in den meisten Ländern erreicht ist.

      In einer rezessiven Lage wie der jetzigen ist die Wahl zwischen der Weiterführung prozyklischer Rotstiftpolitik, die den Unternehmen die letzten Absatzmöglichkeiten ruinieren könnte, und laxerer Handhabe des Verschuldungsdogmas, was dann allerdings auch drakonische Sozialkürzungen nicht mehr gut begründbar macht, aus Sicht der Renditejäger ohnehin eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Es ist keine Frage des sozialen Gewissens, sondern eine des Profitkalküls, auf welche Seite man sich dabei schlägt.

      So hofft etwa Jürgen Michels von der Citygroup sogar (zumindest für Deutschland) auf eine Verschärfung der Wirtschaftskrise, da alles andere »die unumgänglichen Strukturreformen« nur wieder vertagen würde: »Die kommen nur, wenn es richtig weh tut«, ließ er sich im Handelsblatt zitieren. Auch der Europa-Chefvolkswirt von Morgan Stanley, Joachim Fels, plädiert ausdrücklich gegen eine konjunkturfördernde Zinssenkung der Europäischen Zentralbank, weil, wie er meint, »zur Disziplinierung der Gewerkschaften eine Rezession nötig« sei. Wenig von solcher Position hält dagegen Daval Joshi, globaler Aktienstratege von Société Générale, der feststellt, dass Absatzprobleme die Kostensenkungen in vielen Unternehmen längst überkompensiert haben. Denn: »In Kontinentaleuropa ist das Beschäftigungs- und Lohnwachstum die Haupttriebkraft für den privaten Konsum.« Aus dieser Ecke kommen offenbar auch die Berater des französischen Finanzministers Francis Mer, der den kürzlich angezeigten blauen Brief aus Brüssel mit der höflichen Bemerkung abtat, sein Land habe eben »beim Sparen einen anderen Rhythmus«. Das war die diplomatische Umschreibung dafür, dass er keineswegs – wie von Brüssel angemahnt – das Haushaltsdefizit in diesem Jahr um 0,5 Prozent zu senken beabsichtigt und auch für 2006 ein Defizit im französischen Staatshaushalt erwartet.

      EU-Wirtschaftskommissar Solbes reagierte darauf, wie er es seit Jahren gelernt hat, nämlich mit Verweis auf Frankreichs nötigen Beitrag, »damit das Vertrauen in den Euro erhalten bleibt und gestärkt wird«. Das Problem ist nur: Seit der Euro unaufhaltsam aufwertet, hätte die europäische Exportindustrie gar nichts mehr dagegen, wenn das »Vertrauen« wieder ein wenig schwächer würde. Es könnte daher passieren, dass Eichels und Schröders »Vodoo-Ökonomie« bald von seinen konservativen Kollegen im Nachbarland ausgebremst wird.

      1. Februar 2002

      Kurzzeitgedächtnis

      Wenn die Konjunktur boomt und mit ihr die Rendite, wird die ökonomische Theorie zum Tummelplatz jener besonders dumpfen Sorte von Marktapologeten, die sich durch ein wissenschaftliches Alzheimer-Syndrom, will heißen: die Abwesenheit von Erinnerungsvermögen auszeichnen. In der Krise dagegen, in die die entfesselten Marktkräfte verlässlich nach gewisser Zeit führen, erhalten wieder jene Rückenwind, die den Kapital-Gesandten im politischen Geschäft genau das vorwerfen, was ihnen zuvor abverlangt wurde: Verzicht auf die Steuerung des betriebswirtschaftlichen Profitkalküls zwecks Erhalt der gesamtwirtschaftlichen Stabilität.

      Dieselbe Debatte findet derzeit in den USA auf der Ebene einer Auseinandersetzung über Ziele und Methoden von Zentralbankpolitik statt. Mit der Spekulationsblase an den Aktienbörsen ist auch jener Mythos geplatzt, der den Namen Alan Greenspan trug. Der umjubelte Held der »Goldenen Neunziger«, auf dessen »glückliche Hand« mancher Wall-Street-Yuppie nicht nur eine Flasche Champagner gelehrt haben dürfte, damals, als die Kurse stiegen und stiegen und man mit etwas Glück in Tagen, ja Stunden Millionen verdienen konnte – Greenspan sieht sich inzwischen mit dem Vorwurf attackiert, er habe die Exzesse an den Finanzmärkten zu lange hingenommen, ohne angemessen zu reagieren. Vorgetragen wird dieser Vorwurf nicht von irgendwem, sondern von namhaften amerikanischen Ökonomen, und auch nicht irgendwo, sondern in den Top-Spalten der renommierten amerikanischen Wirtschaftspresse.

      Zwar wird eingeräumt, dass der amerikanische Zentralbanker immerhin bereits im Dezember 1996 vor einem »irrationalen Überschwang« gewarnt hatte; der Warnung aber – so die Kritiker – seien keine Taten gefolgt. Im Gegenteil, nach der minimalen Zinserhöhung im März 1997 habe Greenspan nur ein Jahr später, als die Aktienmärkte infolge von Asien- und Russlandkrise und nach dem Beinahezusammenbruch des amerikanischen LTCM-Hedge-Fonds das erste Mal ins Taumeln gerieten, sein Liquiditätsfüllhorn wieder generös geöffnet. So konnte die Börsenparty weitergehen und von ihr gesponsert lebte die Reichtums-Illusion der amerikanischen Mittelklasse fort, die sich unverzagt in Konsum und Schulden stürzte, was neben den börseninduzierten virtuellen auch die realen Gewinne von Unternehmen und Banken auf lichte Höhen trieb. Im Januar 2000 erreichte der Dow Jones seinen Gipfel mit einem Wert von 11 722 Punkten. Seitdem geht es abwärts: in der virtual reality der Börsen wie in der realen Wirtschaft und mit Greenspans Ansehen.

      Es ist durchaus wahrscheinlich, dass eine kräftige Zinserhöhung der Fed im Sommer 1998 den ganzen Spuk bereits zwei Jahre früher beendet hätte. Unwahrscheinlich ist, dass die folgende Weltwirtschaftskrise milder ausgefallen wäre als sie jetzt droht. Und noch unwahrscheinlicher ist, dass ein Zentralbanker eine solche Entscheidung im Amt überlebt hätte. Nicht nur eine gewisse Sorte Ökonomen, der ganze Kapitalismus lebt vom Kurzzeitgedächtnis. Jeder nur etwas anhaltende Aufschwung wird zur »New Era« erklärt, die nie wieder endet, weil diesmal alles ganz anders ist. Und wehe dem, der diese Scheinwelt stört, solange sich in ihr gut Geld verdienen lässt. Jeder Crash wird folgerichtig mit dem gleichen verblüfften Entsetzen quittiert, das bald darauf in die wütende Suche nach Schuldigen umschlägt.

      Die Vorwürfe gegen Greenspan gehören ebenso in diese Rubrik wie der öffentliche Pranger für frühere »Star-Analysten«

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