Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten. Sven Elvestad
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Aber plötzlich schlug die Lichtflamme zur Seite und flackerte einige Sekunden wie in Stücke gerissen, bis sie sich wieder erhob. Jemand war ins Zimmer gekommen, und durch die offene Tür war der Wind hereingeweht. Es war Signe.
Signe in demselben abgetragenen Werktagskittel mit den zu kurzen Ärmeln, ohne Überkleid, das Kopftuch auf die Schultern gesunken und das Haar wild verblasen. Signe, noch gejagter als früher am Abend, zitternd vor Erregung, ängstlich bemüht, kein Geräusch zu machen, ganz von mystischer Erwartung erfüllt – süß geheimnisvoll in sich hineinflüsternd, in dem stummen, tödlich schwermütigen Leben des Wahnsinns.
Sie ging auf die brennende Kerze zu, die sie mit offenen, leeren, blicklosen Augen betrachtete.
Eine ungeheure innere Welt von Gesichten hatte gleichsam die Wirklichkeit ausgeschlossen. Sie legte die Hände auf die Tischplatte, ein Bild ekstatischen, in sich gekehrten Gebets vor der Altarflamme. Für ihre zerrüttete Seele, die außerhalb der Grenzen des Daseins umherirrte, nahmen selbst die alltäglichsten Dinge visionäre Dimensionen an. Der Abstand von der brennenden Kerze zu der hohen, spitzbogigen Tür war für sie der Abstand vom Unglück zu den heiligen Symbolen des Altars mit dem Blute des Erlösers.
Nach einiger Zeit ging sie in die Küche hinaus und kam mit noch einigen Kerzen in den Händen zurück.
Sie zündete die eine an der anderen an und stellte sie in einer Reihe auf den Tisch. Die Wände wurden deutlicher. Die alten Zinnkrüge bekamen Glanz, und sogar die Decke hoch oben mit den dicken, von Rauch und Alter geschwärzten Stützbalken, wurde sichtbar.
Lange betrachtete sie die flammenden Kerzen mit einer stillen träumerischen Freude, wie sie Kindern oder Narren, die ins Feuer starren, eigen ist. Aber schließlich bekam ihr Gesicht einen staunenden, gefesselten Ausdruck. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, und die Lichter, die sich auf der Netzhaut ihrer Augen abgezeichnet hatten, erweiterten sich zu großen glimmenden Sonnen, farbenschimmernden Nebeln, die über die Wände wogten, pulsierend wie Quallen im Meer.
Diese hypnotische, dunkle Welt behexte sie förmlich. Sie stand jetzt mitten im Zimmer, ein kleines Menschenwesen nur in dem großen Raum, umwirbelt von dem Zauber, der von ihrem eigenen Sinn ausströmte. Plötzlich breitete sie die Arme wie zum Willkommen nach einem aus, der lange erwartet war, und rief:
»Ja –«
Sie wiederholte dieses eine Wort »Ja« mehrmals mit steigender Stärke. Sie erwiderte einen Ruf, der immer ungestümer wurde, weshalb auch ihre eigene Antwort immer eindringlicher klang: »Ja.« Sie hörte es. »Ja, ja.«
Jetzt geht in der geschlossenen Tür etwas vor, in der großen Doppeltür nach dem Fluß.
Ein Leben erwacht in den Planken, anfangs ist es nur wie das Schattenspiel der vielen brennenden Kerzen, die Reflexe der Gesichtseindrücke in den Pupillen der Schauenden. Aber bald sammeln sich die Bewegungen zu einem bestimmten Sinn. Etwas Lebendes sucht mühsam die Planken der Tür zu durchdringen. Ein seltsames, schleierartiges, wogendes Leben sickert durch die Zusammenfügungen der Planken und bildet Konturen in dem alten, mattschimmernden Firnis. Die Gestalt beginnt sich zu formen. Sie dringt in die Mitte der Tür vor, wo die beiden Türflügel zusammenschließen, ein Stück über dem Schloß bildet sich ein leuchtender Fleck, ein Gesicht mit einer außerordentlich weißen und schimmernden Stirn ...
Und so wie wenn man ein Bild über einem andern hervorruft, erscheint eine menschliche Gestalt über dem Querbalken. Anfangs kann man die Struktur der Tür noch durch die dünne Lage der menschlichen Gestalt sehen, aber bald tritt diese Gestalt ganz hervor. Und nun steht er deutlich innerhalb der geschlossenen Tür, der fremde Gast. Es ist Andreas.
In dem Maße, in dem er deutlicher wurde, ist Signe ihm nähergekommen – mit zögernden Schritten, ängstlich, daß seine Gestalt entweichen und sich wieder in dem schwachen Lichtschimmer der Tür auflösen könnte.
Nun blieb sie still stehen, indem sie die Handflächen gegeneinander preßte.
»Ich wußte, du würdest kommen«, sagte sie.
Andreas war in seinen großen Mantel gehüllt. Der hing in steifen, meergrünen, triefend nassen Falten gerade herab, seine Arme und Hände waren in diesen Falten verborgen und schienen mit dem Mantel verwoben zu sein. Er hatte keinen Hut auf dem Kopfe. Bis tief in die Stirn hing das Haar, klebrig von Feuchtigkeit. Über dem rechten Auge hatte er eine große, blutende Wunde. Ein erstarrter Blutstrom ging von der Stirn über das Ohr zum Hals hinunter. Sein Gesicht drückte keinen Schrecken aus, es zeigte nur eine unermeßliche Müdigkeit und Trauer.
»Signe,« sagte er, »ich bin schon einen ganzen Tag hier. Warum hast du mich nicht gesehen?«
»Ich habe dich nicht früher sehen können, erst jetzt. Aber ich habe gefühlt, daß du in der Nähe bist. Als ich draußen auf den Schären stand, kamst du mir vom Meer aus entgegen. Ich wußte, daß du es bist. Ich habe deine Gegenwart im Sternenlicht gespürt. Und vorher wurde mir dein Kommen verkündigt, ganz so, wie ich dich jetzt kommen sah. Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt, so inbrünstig, als ob ich sterben sollte und mich nach der Erlösung sehnte.«
Andreas neigte den blutbesudelten Kopf.
»Es ist seltsam,« sagte er, »daß du mich jetzt sehen kannst. Vor einer Stunde ging ich unten auf der Straße an dir vorbei, und da sahst du mich nicht.«
»Warum ist dein Antlitz so blutig?« fragte Signe.
»Das ist die Axt,« antwortete er betrübt, »es mußte geschehen, so war es bestimmt, und darum konnte nichts es hindern. Sie standen im Dunkel da und warteten auf mich, als ich heute abend heim in mein Zimmer kam. Ich war so unermeßlich müde, Signe, und ich wollte mich so unbeschreiblich gerne zur Ruhe legen. Und während ich da stand und das Licht entzündete, schlugen sie mit der Axt nach mir. Hier, über der Schläfe. Ich weiß nicht mehr, ob es weh tat, ich habe keine Schmerzen mehr. Aber von dem Augenblick an, in dem es geschah, bin ich auf der Wanderschaft von hier fort. Ich entferne mich immer mehr und mehr. Du mußt mir folgen, Signe.«
»Ja, ich folge dir«, antwortete sie eifrig. »O wie böse sind sie gegen dich gewesen, Andreas!«
»Nein, nein,« sagte er vorwurfsvoll, »es ist nichts anderes geschehen, als was sich vollziehen mußte. Ich empfinde es jetzt als eine Befreiung. Hier soll niemand angeklagt werden. Sie trugen mich in das Boot hinunter, die Stufen hinab, die ich so gut kannte. Nun werde ich nie mehr die Lichter meiner Kindheit sehen. Dann ruderten sie mich an das andere Flußufer und senkten mich ins Schilf. Da liege ich nun.«
Eine Hand löste sich aus seinen regungslosen Mantelfalten und winkte nach rückwärts, diese Hand leuchtete weiß gegen die dunkle Tür.
»Jetzt kommen sie zurückgerudert«, sagte er.
Signe streckte verzweifelt die Arme nach ihm aus.
»Ich kann dich nicht mehr so deutlich sehen«, flüsterte sie. »Du entschwindest mir. Aber du bist nicht tot. Ich kann dein Herz schlagen hören.«
»Das ist nicht mein Herz,« sagte Andreas, »das sind die Ruder, die draußen im Boot an die Gabeln schlagen. Sie kommen.«
Er begann wieder in die Balken der Tür einzudringen; die schrägen Bretter,