Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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»Sie können nicht eintreten, Fürstin, gehen Sie!« sagte er mit Entschiedenheit.
Sie kehrte in den Garten zurück und setzte sich an den Rand des Teiches. Man konnte sie dort vom Hause aus nicht bemerken. Sie wußte nicht, wie lange Zeit sie dort gesessen hatte, bis sie endlich plötzlich aus ihrer Träumerei erweckt wurde durch Schritte, die sich auf dem Kiesweg näherten. Es war Dunjascha, ihre Kammerzofe, die man nach ihr ausgesandt hatte.
»Kommen Sie«, rief sie, »der Fürst …«
»Gleich, gleich«, erwiderte Marie und eilte auf das Haus zu.
»Fürstin«, sagte der Arzt, der sie am Eingang erwartete, »der Wille Gottes ist erfüllt. Fassen Sie sich!«
»Es ist nicht wahr! Lassen Sie mich!« rief sie in heftiger Angst.
Der Arzt suchte sie zurückzuhalten, aber sie drängte sich vorüber.
»Warum hält man mich zurück? Warum diese erschreckten Gesichter…?«
Sie trat in das Zimmer ihres Vaters. Die alte Amme und noch einige Frauen, die das Bett umgaben, traten bei ihrem Anblick zurück, und sie erblickte das strenge, aber ruhige Gesicht des Toten.
»Nein, es ist nicht möglich!« rief sie.
Sie überwand ihren Schrecken, näherte sich dem Totenbett und drückte ihre Lippen auf die Wange ihres Vaters. Aber bei dieser Berührung zitterte sie und schrak zurück. Alle Liebe, die sie empfunden hatte, war verschwunden und einem Gefühl des Abscheus und der Furcht gewichen.
»Er ist nicht mehr! Er ist nicht mehr, und an seiner Stelle ist etwas Schreckliches, ein entsetzliches Geheimnis erschienen, das mich zurückstößt und erstarren macht«, murmelte sie. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und fiel bewußtlos in die Arme des Arztes, der ihr gefolgt war.
Der Leichnam wurde gewaschen und mit seiner Uniform bekleidet, und alle Orden wurden auf einem kleinen Tisch neben der Leiche niedergelegt. Wie durch Zauberei war der Sarg am Abend bereit, man bedeckte ihn mit dem Leichentuch, Kerzen wurden angezündet, man streute Wacholderzweige auf den Fußboden aus, und der Diakon begann Psalmen zu lesen. Viele Nachbarn und sogar Fremde waren gekommen und umgaben den Sarg, zitternd wie Pferde, welche schnauben und sich bäumen beim Anblick eines toten Pferdes. Der Adelsmarschall, der Dorfälteste und die Dienstleute des Hauses bekreuzigten und verbeugten sich mit starren Augen und schreckerfüllten Gesichtern vor dem Sarg und küßten die kalte steife Hand des alten Fürsten.
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Bogutscharowo war bei seinem alten Herrn niemals beliebt gewesen. Die Bauern dieses Gutes waren verschieden von denen in Lysy Gory in ihrer Sprache, Kleidung und ihren Sitten. Sie nannten sich Steppenbewohner. Der Fürst schätzte sie als fleißige Arbeiter und ließ sie oft nach Lysy Gory zur Ernte kommen, aber er liebte sie nicht wegen ihres scheuen Wesens. Die Reformen des Fürsten Andree während seines Aufenthaltes in Bogutscharowo, die Hospitäler und Schulen, die er erbaut hatte, die Verminderung der Fronabgaben hatten ihr scheues Wesen nicht gemildert. Seltsame Gerüchte fanden bei ihnen immer Glauben. Bald erzählte man, die ganze Bevölkerung sei den Kosaken zugeschrieben worden, man werde eine neue Religion bei ihnen einführen; oft sprachen sie auch von der Freiheit, die der Kaiser Paul im Jahre 1707 ihnen gegeben und welche die Herren wieder weggenommen hätten. Der Krieg mit Napoleon und der feindliche Einfall hatte sich mit ihren konfusen Ideen vom Antichristen, vom Ende der Welt und von unbegrenzter Freiheit in ihrer Phantasie vermischt. Geheimnisvolle Strömungen des Volkslebens, dessen Quellen uns oft verborgen bleiben, erlangten hier eine ganz besondere Kraft. Zwanzig Jahre früher zum Beispiel waren die Bauern von Bogutscharowo, durch andere verleitet, in Massen ausgewandert, wie Zugvögel. Sie zogen nach Südosten, wo es Flüsse geben sollte, deren Wasser beständig warm war. Hunderte von Familien verkauften alles, was sie besaßen, und verließen ihre Heimat. Manche hatten sich losgekauft, andere waren entflohen. Viele dieser Unglücklichen wurden grausam bestraft und nach Sibirien geschickt, andere kamen unterwegs durch Hunger und Kälte um, die übrigen kamen nach Bogutscharowo zurück, und die Bewegung hörte auf, wie sie begonnen hatte, ohne erkennbare Ursache. Jetzt herrschte eine ähnliche Gärung unter den Bauern. Sie wurden durch geheimnisvolle Einflüsse heftig erregt, die nur eine günstige Gelegenheit erwarteten, um sich mit neuer Heftigkeit zu äußern.
Alpatitsch war in Bogutscharowo wenige Tage vor dem Tode des alten Fürsten als Verwalter eingesetzt worden und bemerkte eine gewisse Aufregung unter den Bauern. Es hieß, die Kosaken zerstörten die Dörfer, welche von ihren Einwohnern verlassen wurden, während die Franzosen sie schonten. Alpatitsch wußte auch, daß ein anderer Bauer aus dem benachbarten Städtchen eine französische Proklamation mitgebracht hatte, worin gesagt war, die Franzosen werden alles bar bezahlen. Dabei zeigte er die Hundertrubelscheine vor, welche er für sein Heu erhalten hatte, er wußte aber nicht, daß das Papiergeld gefälscht war.
Was aber das Wichtigste war – Alpatitsch erfuhr, daß die Bauern beschlossen hatten, die verlangten Pferde nicht zu stellen und das Dorf nicht zu verlassen. Und doch war keine Zeit zu verlieren. Seit dreißig Jahren war Dron Ältester von Bogutscharowo. Dron war eine jener in moralischer wie in physischer Beziehung starken Naturen, welche, einmal erwachsen, siebzig Jahre alt werden ohne ein weißes Haar, ohne Zähne zu verlieren, ebenso stark und rüstig wie mit dreißig Jahren. Niemals war er krank oder betrunken gewesen, niemals war nach harter Arbeit und schlaflosen Nächten Ermüdung an ihm zu bemerken. Er verstand nicht zu lesen und zu schreiben, aber niemals täuschte er sich in seinen Rechnungen. Dieser Dron erhielt also von Alpatitsch den Auftrag, zwölf Pferde für die Wagen der Fürstin Marie und achtzehn bespannte Karren für den Transport ihrer Sachen zu stellen.
Aber Dron erwiderte, es seien keine Pferde da. Die einen hätten sie an die Krone vermietet und den anderen Bauern seien viele durch Anstrengung und schlechte Nahrung gefallen, es sei ganz unmöglich, die verlangten Pferde zusammenzubekommen.
Erstaunt und aufmerksam betrachtete Alpatitsch Dron. Er war ebenso vortrefflich als Verwalter wie Dron als Ältester und begriff sofort, daß diese Antwort nicht die Ansicht Drons, sondern die der Gemeinde ausdrückte.
»Höre, Dron«, sagte er, »mach keine Dummheiten! Der Fürst Andree hat mir befohlen, euch alle fortzuschaffen, damit ihr nicht mit dem Feind gemeinschaftliche Sache macht. Es ist sogar ein kaiserlicher Befehl da, wer bei dem Feind zurückbleibt, ist ein Verräter. Verstehst du?«
»Ich verstehe«, erwiderte Dron, ohne die Augen aufzuschlagen. Doch Alpatitsch war damit nicht zufrieden.
»Dron, es wird schlimm«, fuhr er fort. »Ich sage dir, sei nicht eigensinnig! Ich durchschaue dich durch und durch, bis drei Ellen unter den Fußboden. Also sage ihnen, sie sollen sich auf den Weg nach Moskau machen, und die Fahrzeuge müssen morgen bereit sein.«
»Was soll ich machen?« erwiderte Dron. »Die Leute nehmen nicht Verstand an, was ich ihnen auch sagen mag.«
»Gut, also höre, ich gehe zum Landpolizeimeister, und du gehst zu den Bauern und sagst ihnen, sie sollen nicht mehr an solche Dummheiten denken und die Wagen liefern.«
»Gut«, erwiderte Dron.
Alpatitsch sprach nicht weiter über die Sache. Er wußte, daß es das beste Mittel war, diese Leute zu regieren, die Möglichkeit eines Widerstandes gar nicht zuzugestehen. Er schien also von Drons anscheinender Fügsamkeit befriedigt zu sein, machte sich aber bereit, ohne ein Wort darüber zu