Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi страница 149
Der Adjutant führte den Befehl aus und kehrte zum Fürsten Andree zurück. Von der anderen Seite her kam zu Pferde der Kommandeur des Bataillons.
»Achtung!« ertönte der erschreckte Ruf eines Soldaten, und wie ein Vögelchen, das sich zur Erde niederläßt, schlug zwei Schritte vom Fürsten Andree neben dem Pferde des Majors eine Granate ein. Das Pferd sprang schnaubend zur Seite und warf beinahe den Major ab.
»Niederlegen!« schrie die Stimme des Adjutanten, der sich selbst auf die Erde legte. Fürst Andree stand unentschlossen dabei. Die Granate drehte sich rauchend wie ein Kreisel zwischen ihm und dem auf der Erde liegenden Adjutanten.
»Ist das etwa der Tod?« dachte Fürst Andree. »Ich will nicht sterben! Ich liebe das Leben, die Erde, die Luft!« Dabei dachte er daran, daß man ihn beobachtete.
»Schämen Sie sich, Herr Offizier!« sagte er zu dem Adjutanten. »Ein solches …« Er konnte nicht zu Ende sprechen, in demselben Augenblick ertönte ein Schlag, Fürst Andree taumelte zur Seite, erhob den rechten Arm und fiel auf die Brust. Einige Offiziere liefen auf ihn zu. Auf der rechten Seite sammelte sich ein großer Blutfleck auf dem Rasen, die Landsturmleute mit der Tragbahre blieben hinter den Offizieren. Fürst Andree lag auf der Brust und atmete schwer röchelnd.
»Was steht ihr da? Vorwärts!«
Die Bauern ergriffen ihn an Schultern und Füßen, aber er stöhnte kläglich, worauf sie sich ansahen und ihn wieder niederlegten.
»Faßt an! Auf die Trage!« schrie eine Stimme. Wieder ergriffen sie ihn an den Schultern und legten ihn auf die Trage.
»Ach, mein Gott! Was ist das! Es ist aus mit mir!« rief eine Stimme unter den Offizieren. »Sie ist mir am Ohr vorübergeflogen!« sagte der Adjutant. Die Bauern hoben die Trage auf die Schultern und gingen hastig nach dem Verbandplatz.
»Geht doch im Schritt! … Heda, ihr Bauernvolk!« schrie ein Offizier und hielt die Bauern an, da durch ihre unregelmäßigen Schritte die Tragbahre erschüttert wurde.
»Erlaucht! Ach, Fürst!« sagte der herbeigeeilte Timochin mit zitternder Stimme. Fürst Andree öffnete die Augen und suchte den, der sprach, dann schloß er wieder die Augenlider.
Die Landsturmleute brachten den Fürsten in den Wald, wo der Verbandplatz lag. Dieser bestand aus drei Zelten am Rande eines Birkenwäldchens, in welchem Wagen und Pferde standen. Die Pferde fraßen Hafer, und Sperlinge flogen um sie her, um zerstreute Körner aufzupicken, Raben, welche Blut witterten, krächzten auf den Birkenbäumen. Um die Zelte herum auf einem Räume von zehn Morgen lagen, saßen und standen mehr als zweitausend blutende Leute. Um die Verwundeten mit ihren kläglichen und ängstlichen Mienen standen Gruppen von Trägern, welche von den an diesem Ort diensttuenden Offizieren weggejagt wurden. Aber die Soldaten hörten nicht auf die Offiziere und blickten gespannt nach dem, was vor ihren Augen vorging. Aus den Zelten hörte man bald lautes, böses Zanken, bald klägliche Töne. Zuweilen kam ein Feldscher nach Wasser herausgelaufen und deutete auf diejenigen, welche hineingetragen werden sollten. Die Verwundeten, welche vor den Zelten warteten, bis sie an die Reihe kamen, stöhnten, weinten, schrien, zankten, baten um Wasser, einige fieberten. Die Träger trugen ihren Regimentskommandeur an anderen, unverbundenen Verwundeten vorüber, näher an eines der Zelte, und blieben stehen, auf Befehl wartend.
Fürst Andree öffnete die Augen und konnte lange nicht begreifen, was um ihn her vorging. Er erinnerte sich nach und nach an die Wiese, das Ackerfeld, den schwarzen, kreisenden Ball, an seinen leidenschaftlichen Ausbruch von Lebenslust. Zwei Schritte vor ihm stand, auf einen Ast gestützt, mit verbundenem Kopf ein hochgewachsener, hübscher, schwarzhaariger Unteroffizier, welcher laut sprach. Er war am Kopf und am Fuß durch Kugeln verwundet. Eine Gruppe von Verwundeten und Trägern hatte sich um ihn gesammelt, welche aufmerksam zuhörten. »Dort haben wir den König selber gefangen!« erzählte er mit glänzenden Augen. »Wenn nur diesmal Reserve dagewesen wäre! … Ich sage dir, Brüderchen …«
Fürst Andree blickte wie alle anderen mit leuchtenden Augen nach dem Unteroffizier und empfand ein tröstliches Gefühl.
»Aber ist denn jetzt nicht alles gleichgültig?« dachte er. »Was wird dort geschehen? Und was war hier? Warum wollte ich mich nicht vom Leben trennen? Es lag etwas in diesem Leben, was ich nicht begriff und nicht begreife.«
178
Einer der Ärzte mit einer blutigen Schürze und blutigen, kleinen Händen kam aus dem Zelt heraus und hielt eine Zigarre vorsichtig in den Fingern, um sie nicht zu beflecken. Er blickte sich ringsum, aber über die Verwundeten weg, augenscheinlich wollte er sich ein wenig erholen.
»Gleich«, erwiderte er einem Feldscher, der auf den Fürsten Andree deutete. Darauf befahl er, ihn in das Zelt zu tragen. Unter den übrigen Verwundeten erhob sich ein Flüstern. Fürst Andree wurde auf einen flüchtig gereinigten Tisch gelegt. Er vermochte nicht zu unterscheiden, was im Zelt war und vernahm klägliches Stöhnen von allen Seiten. Dabei empfand er einen heftigen Schmerz in der Hüfte und im Rücken. Alles, was er um sich sah, floß zu einem einzigen blutigen Bild zusammen. Einige Zeit blieb er allein und sah unwillkürlich, was an den anderen Tischen vorging. Auf dem nächsten Tisch saß ein Tatar, wahrscheinlich ein Kosak, nach der Uniform zu schließen, die neben ihm lag. Vier Soldaten hielten ihn, ein Arzt mit einer Brille schnitt etwas in seinem braunen, muskulösen Rücken.
»Ach! Ach! Ach!« brüllte der Tatar. Plötzlich erhob er sein schwarzes, stumpfnasiges Gesicht, zeigte seine weißen Zähne und begann sich lange zu recken unter durchdringendem Kreischen.
Auf dem anderen Tisch, um den sich viele gesammelt hatten, lag ein großer, dicker Mensch auf dem Rücken, mit zurückgeworfenem Kopf. Die Farbe seiner verwirrten Haare und die Stellung des Kopfes erschienen Fürst Andree bekannt. Einige Feldschere drehten den Menschen auf den Rücken und hielten ihn fest, ein großes, weißes Bein zuckte unaufhörlich, während der Mensch krampfhaft schluchzte. Zwei Ärzte, von denen der eine bleich war und zitterte, arbeiteten schweigend an dem anderen roten Bein dieses Menschen. Der Arzt mit der Brille, welcher mit dem Tatar fertig geworden war, wischte sich die Hände ab und ging auf Fürst Andree zu. Er blickte in sein Gesicht und wandte sich hastig ab.
»Entkleiden! Was steht ihr da?« rief er zornig den Feldscherern zu.
Die Erinnerungen seiner frühesten Jugend erwachten in Fürst Andree, während der Feldscher mit hastigen Händen den Rock aufknöpfte und abnahm. Der Arzt bückte sich tief auf den Verwundeten herab, befühlte ihn und seufzte schwer. Dann machte er jemand ein Zeichen. Fürst Andree verlor unter dem heftigen Schmerz das Bewußtsein. Als er wieder erwachte, waren die zersplitterten Knochen der Hüfte ausgeschnitten und die Wunde verbunden. Man spritzte ihm Wasser ins Gesicht, und wie Fürst Andree die Augen öffnete, bückte sich der Doktor auf ihn herab, küßte schweigend seine Lippen und wandte sich hastig um.
Fürst Andree empfand nach den durchgemachten Leiden ein wonniges Gefühl, wie er es lange nicht gekannt hatte. Alle die besten, glücklichsten Augenblicke seines Lebens, besonders seiner frühesten Kindheit lebten wieder auf in ihm, nicht als Vergangenheit, sondern als wirkliche Gegenwart.
Jetzt waren die Ärzte bei jenem Verwundeten beschäftigt, welcher Fürst Andree vorhin aufgefallen war. Man hob ihn auf und suchte ihn zu beruhigen.
»Zeigen Sie mir … Oh! Oh! Oh!« rief er unter Weinen und Stöhnen.
Auch