Karin Bucha Staffel 4 – Liebesroman. Karin Bucha
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»Abgereist?« fragte Doktor Mayring ungläubig. »Sie müssen sich irren!«
»Nix irren – Zimmer leer – Schrank leer – schöne Frau fort«, erklärte das Mädchen, und dabei öffnete sie die Tür und ließ die beiden Herren eintreten.
Das Zimmer sah aus, als wäre es nie bewohnt gewesen. Das Bett war bereits mit frischer Wäsche überzogen, die Fenster weit geöffnet.
»Und die Herren?« fragte er das Mädchen, das ängstlich von einem zum anderen blickte.
»Auch fort – mit große Wagen fort – ganz schnell.«
»Aha«, sagte Michael und winkte Harry herbei. »Kommen Sie, Direktor Fernandez wird uns Auskunft geben können. Zuerst aber zu Ingrid. Hoffentlich ist sie inzwischen zurückgekommen.«
In großer Eile verließen sie das zweite Stockwerk und gingen in Ingrids Zimmer.
»Leer!« preßte Michael, immer aufgeregter werdend, hervor. »Jetzt glaube ich nicht mehr an einen Zufall. Das ist eine neue Gemeinheit von dem Murphy. Passen Sie auf, Harry, hier stimmt was nicht!«
»Glauben Sie wirklich?« zweifelte Harry noch.
»Können Sie sich sonst das Verschwinden der beiden Damen erklären?«
Doktor Mayring lief wie ein wildes Tier hin und her.
»Wenn ich nur wüßte…«
Harry knirschte mit den Zähnen und ballte die Hände zu Fäusten.
Während sie noch unschlüssig vor sich hin starrten und allerlei Möglichkeiten zu dem seltsamen Verschwinden der beiden Damen erwogen, klopfte es.
Der Boy trat nach Aufforderung ein und brachte einen Brief für Doktor Mayring.
Michael riß dem Boy das Schreiben fast aus der Hand und blickte enttäuscht darauf nieder. Nicht eine Frauenhandschrift, wie er gehofft, sondern eine feste, charakteristische Männerhand hatte seinen Namen geschrieben.
Hastig erbrach er den Umschlag und las:
Erschrecken Sie nicht, lieber Doktor, wenn Sie zum Schluß meinen Namen lesen. Ich nehme an, Gunhild Bruckner hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen von der Unterredung zwischen uns auf der ›Pernambuco‹ zu sprechen.
Ich bin Ihr und Gunhilds Freund und habe Ihrer Frau Mutter in Berlin in die Hand versprochen, über Sie und die anderen zu wachen und die Entwicklung der Dinge von weitem zu beobachten.
Doktor Murphy verliert die Nerven und geht aufs Ganze. Er hat die beiden Mädchen unschädlich gemacht und zusammen mit dem Dicken, der sich Exzellenz Nawarra nennt, verschleppt.
Erst spät bin ich dahintergekommen, und doch noch nicht zu spät. Ich nehme die Verfolgung auf. Der Endpunkt dieser Jagd kann nur Lima sein. Lima bietet den beiden Verbrechern Schlupfwinkel im weitesten Maße.
Anbei ein Empfehlungsschreiben an den deutschen Konsul in Rio. Ihm können Sie rückhaltlos vertrauen. Er kennt meine Geschichte, denn ich war jahrelang sein Hausgenosse. Er wird Ihnen auch weitestgehende Unterstützung zuteil werden lassen und sich mit den Behörden in Lima in Verbindung setzen.
Bewahren Sie Ihre Ruhe, und handeln Sie genauso entschlossen wie ich.
Ihr ergebener Doktor Hellberg, der Dunkelbärtige.
Nachdem Doktor Mayring zu Ende gekommen war, verharrte er regungslos in einer Art Lähmung.
»Also doch, ich habe es geahnt. Das soll Murphy mir büßen, dieser Schuft!« stieß er grimmig hervor.
Sekundenlang barg er das Gesicht in den Händen. Gunhild und Ingrid, die beiden Mädchen in der Gewalt dieser skrupellosen Menschen?
Harry Ohnesorg war in den Inhalt des Briefes vertieft, der diese Erschütterung in Doktor Mayring ausgelöst hatte.
Wie ein Häufchen Unglück hockte Harry auf seinem Platz und starrte zu Boden.
»Nehmen Sie mir’s nicht übel, Doktor, und halten Sie mich um Gottes willen nicht für einen Egoisten. Mir geht es genauso um die Mädchen wie Ihnen, ich liebe Ingrid!«
»Und ich Gunhild!« schrie Doktor Mayring, den tatsächlich die Beherrschung verließ.
»Na also«, meinte Harry unheimlich ruhig. »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Ein erneutes Klopfen unterbrach seine Rede, die sicherlich ein sehr gutgemeinter Trost sein sollte, der aber an Doktor Michael Mayring abprallte.
Ehe er noch die Tür erreichte, wurde sie schon geöffnet, und Doktor Hellberg trat ein. Zuerst erkannten sie ihn gar nicht, denn er hatte den Bart abgelegt und sah nun bedeutend jünger und freundlicher aus.
Wie magisch angezogen war Harry aufgestanden und fand als erster die Sprache wieder:
»Doktor Hellberg?« stammelte er. Er schluckte. Eine wunderschöne Hoffnung stieg in ihm auf. »Wo sind die beiden Damen?« platzte er heraus.
»Leider konnte ich nichts mehr ausrichten. Die beiden Damen sind noch in der Gewalt von Murphy alias Sommerfield und befinden sich augenblicklich in einem Regierungsflugzeug auf dem Weg nach Lima. Das ist alles, was ich auf dem Flughafen erfahren konnte.« Fest drückte er Michael und Harry die Hand. »Ich habe bereits die nötigen Schritte unternommen. Sind Sie reisefertig?«
»Das geht sehr schnell«, warf Michael verstehend ein.
»Gut!« fuhr Doktor Hellberg fort. »In einer Stunde können wir mit dem Flugzeug nach Lima starten. Mein Freund, Konsul Wacker, stellt mir ein Flugzeug mit Piloten, ebenfalls einem Deutschen, zur Verfügung. Er weiß, worum es geht. Indessen setzt der Konsul sich mit der Regierung in Peru in Verbindung. In einer halben Stunde erwarte ich Sie in der Halle zur Fahrt zum Flugplatz.«
Mit Doktor Mayring ging eine glückhafte Veränderung vor. Auch ein leises Staunen wuchs in ihm.
»Und weshalb tun Sie das alles für uns? Sie sind uns doch immerhin ein Fremder?«
Der Schimmer eines Lächelns ging über Doktor Hellbergs Züge. Es machte das ernste, durchgeistigte Gesicht noch anziehender.
»Ihr Vater war mein bester Freund. Genügt Ihnen das?«
Tief aufatmend und impulsiv erfaßte Michael die Hand des Gelehrten und drückte sie warm und lange.
»Ich danke Ihnen«, preßte er mühsam beherrscht hervor.
*
Ein tiefer Atemzug zitterte von Ingrid Mayrings Lippen. Sie öffnete die Augen ein wenig, aber das Gefühl bleierner Schwere drückte ihr die Lider gleich wieder zu.
Wieder öffnete sie ein wenig die Lider, ihre Augen wurden starr und weit. Direkt vor ihr im Blickfeld waren die Köpfe zweier Männer zueinander geneigt, sie unterhielten sich laut und ungeniert, versuchten das Brummen noch zu übertönen und sich zu verständigen.
Im Augenblick war sie hellwach. Jetzt wußte sie: Sie befand sich an Bord eines Flugzeugs.