Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser

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Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten - Friedrich  Glauser

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näherten sich, dann ging die Türe auf.

      Frau Laduner trug den Zwicker auf der Nase. Sie blinzelte angestrengt in den dunklen Gang, ihre Augen näherten sich Studers Gesicht auf Handbreite, dann lachte sie…

      »Der Herr Studer!« Und er solle doch innecho, statt im Gang draußen stehen zu bleiben, und dann abhocken. Es habe noch Tee… Etwas Kirsch dazu? Ja?… Und »Chaschperli, säg guete Tag!« Das sei der Herr Studer, der im Gastzimmer wohne…

      Man war der Herr Studer… Man durfte vergessen, daß man Wachtmeister an der Fahndungspolizei war und dazu verdammt, Verbrechen aufzuklären… Man wurde in einen grünen Armstuhl gedrückt, ein Servierboy stand plötzlich vor ihm, der Tee, der in die Tasse floß, war dunkel wie Mahagoni, es gab einen Gutsch Kirsch darein, und dann mußte man geröstetes Brot nehmen, das warm war und auf dem der Anken zerfloß… Toast nannte man das wohl…

      Ob Frau Doktor so gut sein wolle und noch eins singen, fragte Studer. Die Tapeten des Zimmers waren von einem dunklen Gelb, aber über dem schwarzen Klavier lag auf der Wand ein Sonnenfleck, der wie Weißgold schimmerte…

      Frau Laduner sagte, sie könne ja gar nicht singen; doch war keine Geziertheit und falsche Bescheidenheit in dieser Behauptung. Überhaupt gehörte diese Behauptung in die gleiche Gruppe wie die Bemerkung am Morgen: Man gefiele der Frau Doktor ›nid übel‹… Das war tröstlich.

      Das Chaschperli sagte ungeduldig: »So! Muetti!«

      Und Frau Laduner setzte sich ans Klavier. Ihre Hände waren kurz und dick, die unteren Gelenke der Finger gut gepolstert. Sie sang ein Lied, sie sang zwei Lieder. Studer trank Tee.

      Die Frau stand auf. – Nun sei es genug, sagte sie, und was es Neues gebe… – Er habe den Direktor gefunden…

      »Tot?«

      Studer nickte schweigend, und Frau Laduner schickte ihren Sohn aus dem Zimmer.

      »Soso«, sagte sie dann. »Eigentlich hat es ja so kommen müssen…«

      Und Studer war einverstanden. Ja, es hatte so kommen müssen…

      – Sie wisse nicht, sagte Frau Laduner, ob Studer begreifen könne, was das für ihren Mann zu bedeuten habe… Ob er sich schon ein Bild habe machen können vom Ernst?… Von seinem Charakter? Von seiner Art?… Er habe sehr darunter gelitten, daß er alle Arbeit habe machen müssen. Mein Gott, wie habe die Anstalt ausgesehen bei seiner Ankunft in Randlingen… »Die Kranken sind herumgehockt auf den Abteilungen… Im B haben sie den ganzen Tag gejaßt, das K sah aus wie ein Museum gotischer Figuren… Die Kranken sind herumgestanden, mit verrenkten Gliedern, der eine hat wie ein Wasserspeier den ganzen Tag auf dem Heizungskörper im Korridor gehockt, und gestunken hat es!… Die Badewannen waren den ganzen Tag besetzt. Von den Unruhigen. Die Zellenabteilung war überfüllt… In der Nacht haben sie geschrieen, daß ich mich fast gefürchtet habe, so tönte es über den Hof. Wissen Sie, was Arbeitstherapie ist?«

      Studer mußte lächeln, weil er an den Blitzzug denken mußte, der ihm heut morgen begegnet war.

      »Warum lächeln Sie?« fragte Frau Laduner, und Studer gab den Grund an.

      »Das ist nur ein Teil, und ich verstehe, daß es euch komisch vorgekommen ist. Man sucht die Kranken zum Arbeiten anzuhalten… Mein Mann hat große praktische Begabung, er hat Arbeiten direkt erfunden, er hat den Wärtern (damals sagte man noch Wärter) Kurse gegeben, er ist des Tages fünf-, sechs-, zehnmal über die Abteilungen gegangen; – er, der sonst immer gern flucht, wenn etwas nicht geht, er war geduldig… Und der Direktor ist jeden Abend zum Bärenwirt seinen Dreier trinken gegangen, hat seine Köchin geheiratet, hat mit sechzig einen Sohn taufen lassen… Und als alles in Gang war, als die Anstalt wirklich in Ordnung war, als Leute kamen, um sie zu besichtigen, als die Patienten in den Nächten ruhig waren, die Abteilungen, die früher nach Irrenhaus ausgesehen hatten, nichts anderes waren als Werkstätten, in denen Papiersäcke geklebt, Matten geknüpft wurden – als man Kranke entlassen konnte, die man früher für unheilbar hielt – wer hat den Ruhm eingeheimst?… Ich habe einmal zufällig im Direktionsbüro einen Brief gelesen… Irgendein deutscher Professor schrieb dem Direktor, er habe sich gewundert über die moderne Führung der Anstalt, und er beglückwünsche den Direktor, daß er die neuzeitlichen Errungenschaften der Psychotherapie in seiner Anstalt eingeführt habe…«

      Frau Laduner hatte sich warm geredet. Nun schwieg sie. Ihre Hände ruhten im Schoß, und ihr Leinenrock war fast bis zu den Knieen gerutscht. Studer fand, die Füße der Frau Laduner sähen gutmütig aus. Gutmütig und tatkräftig.

      Er dachte: ›Das Bataillon hört auf mein Kommando!‹ und versteckte ein Lächeln unter seinem Schnurrbart…

      »Und jetzt ist der Direktor tot!« sagte Frau Laduner. Sie atmete tief, und der Stoff ihrer Bluse spannte sich über ihrer Brust. Genau so tief hatte Dr. Laduner geatmet, in der Allee unter den Apfelbäumen, an deren Ästen die winzigen, grasgrünen Früchte hingen, die ebenso sauer waren wie der Klang der Stundenglocke im Türmchen der Anstalt Randlingen…

      Eine Klinke wurde heruntergeschlagen, eine Tür aufgerissen…

      »Frau Doktr, i glaube, dr Herr Doktr isch cho«, sagte Studer und stand auf.

      In der Wohnung wurde eine Tür mit lautem Knall zugeschmettert. Sie wolle go luege, sagte Frau Laduner. Und dann verabschiedete sie sich vom Wachtmeister.

      2.

      Am Türpfosten der Wohnung im ersten Stock war ein Blechschild angebracht, wie man es in jenen Automaten ausstanzen konnte, die früher auf allen Bahnhöfen wuchsen…

      ›Dr. med. Ulrich Borstli‹ stand darauf.

      Vorsichtig versuchte Studer, die Türe zu öffnen, sie war unverschlossen, er stand dann in einem Gang, der dem Gang in der Wohnung Dr. Laduners ähnelte. Ihm war ein wenig beklommen zumute. Aber dann dachte er, daß er schließlich beauftragt sei, den ›Konnex‹ (wie Dr. Laduner sagte) zwischen dem Verschwinden des Patienten Pieterlen und dem Tode des alten Direktors aufzudecken.

      So rief er laut: »Hallo!« Und »Niemer umeweg?«… Stille. Es roch nach kaltem Stumpenrauch. Studer betrat das erste Zimmer.

      Ein Flügel, ein Notenständer, ein Rauchtisch mit einem gefüllten Aschenbecher. Armsessel, ein offener Kamin, davor ein lederner, abgewetzter Klubsessel. Und über dem Klavier hing die vergrößerte Photographie einer Frau. Studer trat näher. Ein spitzes Gesicht, große Augen, die schweren Zöpfe waren kunstvoll über dem Hinterkopf aufgetürmt… Ein altes Bild… Die erste Frau?…

      Der Flügel war verschlossen und mit Staub bedeckt. Zu beiden Seiten der Fenster hingen rote Plüschvorhänge, und durch die Scheiben leuchtete der bleiche Stamm einer Birke. An ihren feinen Ästen hingen zerknitterte Blätter…

      Im Nebenzimmer stand ein Schreibtisch und auf dem Schreibtisch eine Flasche Kognak mit einem gebrauchten Glas daneben. Studer erinnerte sich, daß der Direktor die Gutachten der chronischen Alkoholiker machte – und er mußte leise lachen. Neben der Flasche lag ein Buch aufgeschlagen, Studer suchte das Titelblatt.

      ›Die Memoiren des Casanova.‹

      Eine etwas sonderbare Lektüre!… Nun ja… Aber man mußte die Schubladen des Schreibtisches durchsuchen.

      Sie waren unverschlossen.

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