Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
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»Haben Sie eigentlich darüber nachgedacht, Studer, daß sich niemand unbeschadet lange Zeit mit Irren abgeben kann? Daß der Umgang ansteckend wirkt? Ich habe mich manchmal gefragt, ob es vielleicht nicht umgekehrt ist: daß nur diejenigen als Pfleger, als Ärzte in Irrenanstalten gehen, die ohnehin schon einen Vogel haben, um volkstümlich zu reden. Mit dem Unterschied, daß die Leute, die den Drang verspüren, in Mattos Reich einzudringen, wissen, daß etwas bei ihnen nicht stimmt, unbewußt, meinetwegen, aber sie wissen es. Es ist eine Flucht… Die andern draußen haben manchmal die ausgewachseneren Vögel, aber sie wissen es nicht, nicht einmal unbewußt… Denken Sie, ich bin einmal um die Mittagszeit am Bundeshaus vorbeigegangen und habe die Angestellten herausströmen sehen. Ich bin stehengeblieben und habe mir die Leute angesehen… Es war lehrreich… Gang, Haltung. Der eine hatte den Daumen im Westenausschnitt und ging mit schlenkernden Tritten, sein Gesicht war rot und steif, und ein einfältiges Lächeln lag auf seinem Gesicht… Sieh da! sagte ich, eine beginnende Katatonie!… und versuchte auszurechnen, wann etwa der Schub fällig sein würde. – Ein anderer hatte starre Blicke, sah sich ständig um, dann blickte er wieder eine Zeitlang zu Boden und balancierte vorsichtig auf dem Trottoirrand… Neurotisch, vielleicht schizoid, dachte ich… Ein anderer trug eines jener Lächeln im Gesicht, die man als sonnig zu bezeichnen pflegt, er hatte den Kopf im Nacken, schlenkerte mit dem Stock, grüßte alle Leute… Natürlich: manische Verstimmung wie mein Bundesratsattentäter Schmocker…«
Immer noch spielte das Radio in der Ecke leise Märsche. Es war eine angenehme Begleitung zu den Ausführungen Dr. Laduners.
»Sie haben mit Schül gesprochen, hab' ich gehört? Und er hat Ihnen sein Gedicht verehrt? Sie werden mir zugeben, daß es nicht dumm ist, daß es voll Symbolgehalt ist… Manchmal hab' ich ihn beneidet um seinen Matto… Matto, der die Welt regiert! Matto, der mit roten Bällen spielt und sie wirft, und die Revolutionen flackern auf!… Und die bunte Papiergirlande flattert, und der Krieg lodert… Es hat viel für sich… Wir werden nie die Grenze ziehen können zwischen geisteskrank und normal… Wir können nur sagen, ein Mensch kann sich sozial anpassen, und je besser er sich sozial anpassen kann, je mehr er versucht, den Nebenmenschen zu verstehen, ihm zu helfen, desto normaler ist er. Darum habe ich immer den Pflegern gepredigt. Organisiert euch, haltet zusammen, versucht miteinander auszukommen! Organisation ist doch der erste Schritt zu einem fruchtbaren Zusammenleben… Zuerst Interessengemeinschaft, dann Kameradschaft… Eins geht aus dem andern hervor – sollte wenigstens daraus hervorgehen… Freiwillig übernommene Verpflichtungen… Wenn man es nur nicht so oft auf Schützenfesten prostituiert hätte, das Wort: Einer für alle, alle für einen…«
Ein anderer leiser Marsch… Es war eine Militärmusik, die spielte…
»Es wäre schön… Was tun wir denn eigentlich, wir vielverlästerten Psychiater? Wir versuchen, ein wenig Ordnung zu schaffen, wir versuchen, den Menschen zu zeigen, daß es gar nicht so unnötig ist, ein wenig vernünftig zu sein, nicht allen dunklen Regungen des Unbewußten nachzugeben… Die Menschen haben eines noch nicht begriffen, daß Leid eben auch Lustgewinn bringt… verstehen Sie?…
Wenn es einem Volk zu gut geht, dann wird es übermütig und sehnt sich nach dem Leid. Genügsamkeit ist wohl am schwersten zu ertragen…«
Laduner schwieg. Er schien mehr für sich selbst zu sprechen… Studer hatte plötzlich das Gefühl, daß er die ganze Rede über Pieterlen falsch beurteilt hatte…
Auf dem Grunde aller Menschen hockte die Einsamkeit.
Vielleicht war Dr. Laduner auch einsam? Er hatte seine Frau… Aber es gibt gewisse Dinge, die man auch mit einer Frau nicht besprechen kann. – Er hatte Kollegen… Was kann man schon mit Kollegen sprechen?… Fachsimpeln!… Und mit den Ärzten drunten? Für die war man der Lehrer… Da schneite eines Tages ein einfacher Fahnderwachtmeister in die Wohnung des Dr. Laduner. Und Dr. Laduner ergriff die Gelegenheit und hielt vor besagtem Fahnderwachtmeister Monologe. Warum sollte er nicht?
»Er wirft seine Girlanden, und der Krieg flackert auf…« wiederholte Laduner. Er schwieg. Ein Militärmarsch verklang, und dann erfüllte eine fremde Stimme das Zimmer. Sie war eindringlich, aber von einer unangenehmen Eindringlichkeit. Sie sagte:
»Zweihunderttausend Männer und Frauen sind versammelt und jubeln mir zu. Zweihunderttausend Männer und Frauen haben sich eingefunden als Vertreter des ganzen Volkes, das hinter mir steht. Das Ausland wagt es, mich des Vertragsbruches zu zeihen… Als ich die Macht ergriff, lag das Land verheert, verwüstet, krank… Ich habe es groß gemacht, ich habe ihm Achtung verschafft… Zweihunderttausend Männer und Frauen lauschen meinen Worten, und mit ihnen lauscht das ganze Volk…«
Langsam stand Laduner auf, schritt zum sprechenden Kasten… Ein Knack… Die Stimme verstummte…
»Wo hört Mattos Reich auf, Studer?« fragte der Arzt leise. »Am Staketenzaun der Anstalt Randlingen? Sie haben einmal von der Spinne gesprochen, die inmitten ihres Nestes hockt. Die Fäden reichen weiter. Sie reichen über die ganze Erde… Matto wirft seine Bälle und Papiergirlanden… Sie werden mich für einen dichterischen Psychiater halten… Das wäre nicht so schlimm… Wir wollen doch nicht viel… Ein wenig Vernunft in die Welt bringen… Nicht die Vernunft der französischen Aufklärungszeit, eine andere Art Vernunft, die unserer Zeit… Die Vernunft, die fähig wäre, wie eine Blendlaterne in das dunkle Innere zu zünden und ein wenig Klarheit zu bringen… Ein wenig die Lüge zu verscheuchen… Die großen Worte beiseite zu schieben: Pflicht, Wahrheit, Rechtschaffenheit… Bescheidener zu machen… – Wir sind allesamt Mörder und Diebe und Ehebrecher… Matto lauert im dunkeln… Der Teufel ist schon lange tot, aber Matto lebt, da hat Schül ganz recht… Es ist schade, daß Schül mir nie die Bitte erfüllt hat, eine Geschichte Mattos zu schreiben… Ein kleines Gedicht in Prosa bring ich bei keiner Zeitung an…«
Er schwieg. Studer gähnte leise, Laduner hörte es nicht. »Zweihunderttausend Männer und Frauen – das ganze Volk… Und Kollege Bonhöffer, unser Lehrer, ein Mann, der viel wußte, er ist umgefallen wie ein Kartenhaus…
Erinnern Sie sich an den großen Prozeß?… Der Mann, der soeben sprach, hat Glück gehabt… Wäre er zu Beginn seiner Laufbahn einmal psychiatrisch begutachtet worden, die Welt sähe vielleicht ein wenig anders aus… Ich sagte Ihnen schon, der Verkehr mit Geisteskranken ist ansteckend. Es gibt Menschen, die prädisponiert sind, wenn Sie mich verstehen, aufnahmefähig… Ganze Völker können prädisponiert sein… In einem Vortrag habe ich einmal einen Satz gesagt, der mir übelgenommen wurde: Gewisse sogenannte Revolutionen, habe ich gesagt, sind im Grunde nichts anderes als die Revanche der Psychopathen… Worauf ein paar Kollegen demonstrativ den Saal verlassen haben… Aber es ist doch so…«
Laduner sah müde aus. Er legte die Hand über die Augen. »Wir stehen auf verlorenem Posten. Aber wir müssen weitermachen… Es hilft uns niemand. Vielleicht ist es nicht ganz nutzlos, vielleicht kommen später andere – in hundert, in zweihundert Jahren? –, die bauen dann dort weiter, wo wir aufgehört haben…«
Ein Seufzer. In der Wohnung war es still.
»Trinken Sie noch ein Glas Bénédictine?« fragte Laduner plötzlich. Er ging hinaus, blieb merkwürdig lange fort, kam wieder, mit zwei gefüllten Gläsern auf einem Tablett.
»Prost!« sagte er und stieß mit Studer an. »Sie müssen austrinken!« Studer leerte das Glas. Der Schnaps hatte einen sonderbar bitteren Nachgeschmack. Der Wachtmeister blickte Laduner an, doch der wandte sich ab.
»Gute Nacht, Studer. Und schlafen Sie gut!« sagte er mit seinem Maskenlächeln…
Man liegt im Bett und weiß nicht, schläft man oder ist man wach… Der Schlaf ist wie ein schwarzes