Der Buddhismus. Gottfried Hierzenberger
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Spirituelle Kindheitsgeschichte
Der Wiederverkörperungslehre folgend, wurden dabei auch frühere Existenzen (Vorexistenzen) des Buddha miteinbezogen, z. B. jene im sogenannten Tushita-Himmel (eine der obersten himmlischen Sphären), als der Bodhisattva (= das zum Erwachen bestimmte Wesen) sich entschloss, als Sohn der tugendhaften Māyā, zur Welt zu kommen. Diese hatte gerade ein Keuschheitsgelübde abgelegt und ihren Gemahl Shuddhodana gebeten, dies zu respektieren. In der folgenden Nacht träumte sie dann, dass ein weißer Elefant in ihre Seite eingegangen sei, und sie verbrachte die folgenden zehn Monate in Meditation und religiösen Übungen und trug ihn unbefleckt aus, weil sich der Bodhisattva in einem Kästchen aus kostbarem Stein und nicht in ihrer Gebärmutter befand. Als dann die Zeit der Geburt ihres Sohnes herankam, der »ohne Zutun ihres Mannes entstanden« war und so ohne Karmabelastung zur Welt kommen konnte, geschah dies in der Heimat Māyās, die gerade bei ihren Eltern im Dorf Lumbini zu Besuch war. Seine Geburt fand im Garten statt, und seine Mutter hielt sich an einem Sal-Baum fest, worauf das Kind aus ihrer rechten Seite austrat und von den Göttern Brahma und Indra begrüßt wurde. Sofort nach seiner Geburt machte der Bodhisattva sechs Schritte in Richtung Norden und rief: »Ich bin der Höchste der Welt, ich bin der Beste der Welt, ich bin der Älteste der Welt; dies ist meine letzte Geburt; niemals mehr wird es für mich eine neue Existenz geben.« (Majjhimanikāja 111,123).
Das Kind erhielt von seinem Vater den Namen Siddhārta (= der sein Ziel erreicht hat). Bei der Untersuchung seines Körpers erkannten die Brahmanen die 32 grundlegenden und die 80 sekundären Zeichen eines »Großen Menschen« (maha-purusha) und erklärten, dass er ein Welteroberer oder ein Welterleuchter werde. Und der alte Himalaja-Meister (rishi) Asita flog vom Dach der Welt nach Kapilavastu, nahm den Neugeborenen in die Arme und fing zu weinen an, als er verstand, dass dieser der Buddha werden und er nicht lange genug leben werde, um ihm folgen zu können.
Sieben Tage darauf starb die Mutter Siddhārtas, »weil ein so kostbares Gefäß, das einen Buddha vor seinem Weltengang beherbergt hatte, nie wieder weltlichen Zwecken dienen durfte«. (Helmuth von Glasenapp) Sie wurde im Himmel der Tushita wiedergeboren. Siddhārta aber wurde von Mahaprādschāpatī, einer Schwester seiner Mutter, die der Radscha nach dem Tode Māyās zur Gemahlin genommen hatte, erzogen und wuchs in der idyllischen Umgebung der weitläufigen königlichen Residenz auf. Wegen der Weissagung bei seiner Geburt unterwies der Radscha seinen Sohn in allen Regierungs- und Kriegskünsten, hielt ihn aber von jeder Begegnung mit dem Leid fern.
Der Auszug
Der Legende zufolge ist es dem Prinzen aber doch gelungen, in Begleitung seines treuen Dieners Chandaka vier heimliche Ausfahrten zu unternehmen, bei denen ihm jeweils eine Gottheit zuerst als Greis, dann als Schwerkranker, als ein verwesender Leichnam und zuletzt als Asket erschienen war. Diese Bilder des Leidens erschütterten den Prinzen sehr, und er erkannte daraus, dass das Dasein im Grunde leidvoll ist und jeder Mensch – auch ein scheinbar glücklicher wie er selbst – ständig vom Verlust dessen bedroht ist, was er liebt. Später baute der Buddha diese Erfahrungen in seine Lehre ein:
Hast du jemals einen Mann oder eine Frau gesehen, achtzig, neunzig oder hundert Jahre alt, gebrechlich, geknickt wie ein Giebeldach, niedergebeugt, auf einen Stock gestutzt, mit schwankenden Schritten, kränklich, mit abgebrochenen Zähnen, grauem und schütterem Haar oder kahlköpfig, voll Runzeln, mit fleckigen Lippen? Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass auch du dem Zerfall ausgesetzt bist und ihm nicht entrinnen kannst? Hast du jemals gesehen, wie Leute einen Menschen, der leidend, ohnmächtig und ernsthaft krank war, aufgehoben und zu Bett gebracht haben? Hast du je daran gedacht, dass auch du der Krankheit ausgesetzt bist und ihr nicht entrinnen kannst? Hast du jemals den Leichnam eines Mannes oder einer Frau gesehen, zwei Tage nach dem Hinscheiden, aufgeschwemmt, blau-schwarz gefärbt und in der Verwesung? Hast du nie daran gedacht, dass auch du dem Tod ausgesetzt bist und ihm nicht entrinnen kannst?
Um einen Ausweg aus den unwiderstehlichen Leiden zu suchen, entschloss sich Siddhārta noch in der Nacht nach der Rückkehr von der vierten Ausfahrt, seine Familie zu verlassen. Er rief Chandaka, bestieg sein Pferd und ritt mit ihm durch das südöstliche Tor aus der Stadt – von niemandem bemerkt, weil die Götter, um ihn in seiner Entscheidung, sich von der Welt abzuwenden, zu bestärken, einen tiefen Schlaf über alle Stadtbewohner gelegt hatten und den Hufschlag des Pferdes dämpften. Nach zehn Meilen hielt Siddhārta an, stieg vom Pferd, schnitt sich mit seinem Schwert die Haare, tauschte mit Chandaka die Kleider und schickte ihn mit seinen Sachen zurück. Auch die Götter verließen ihn von da an, denn er hatte beschlossen, als Asket zu leben – wie er es bei seiner letzten Ausfahrt zeichenhaft gesehen hatte – und sein Ziel ohne übernatürliche Mittel, nur aus eigener Kraft zu erreichen.
Er wandte sich zunächst nach Süden und wurde in Vesāli unter seinem Familiennamen Gautama Schüler des berühmten Brahmanen-Weisen Arāda Kālāma, der ihn in das Denksystem der frühen (atheistischen) Samkhya-Philosophie einführte; sehr schnell eignete er sich die Lehre an, hielt sie aber für unzureichend und zog weiter nach Magadha (= Süd-Bihar). Dort wandte er sich an König Bimbisāra. Der fand Gefallen an dem jungen Asketen und bot ihm die Hälfte seines Reiches an.
Gautama aber widerstand der Versuchung und wurde ein Schüler des Yoga-Lehrers Udraka Rāmaputra. Schnell lernte er von ihm alle Techniken der Energie- und Bewusstseins-Steuerung und wurde ein Yoga-Meister.
Doch als ein Jahr nach seinem Auszug aus seiner bisherigen Welt vergangen war, erkannte er, dass ihn auch der Yoga der Wahrheit nicht näher brachte. So zog er weiter und ließ sich schließlich in Uruvilvâ, in der Nähe des Ortes Gayā, nieder und lebte dort zusammen mit fünf anderen Bettelmönchen sechs Jahre lang in strengster Askese. Er versuchte durch härtestes Fasten (»ein Hirsekorn pro Tag«), durch besondere Übungen im Anhalten des Atems (was ihn immer wieder in Lebensgefahr brachte) und durch radikale Kontemplation die Erleuchtung zu erzwingen.
Am Ende seiner Kräfte (»er verfügte nur noch über ein Tausendstel seiner Lebenskraft«, weiß die Überlieferung), erkannte er schließlich auch die Sinnlosigkeit der Abtötung, um Befreiung vom Leid zu erreichen. Dem mittlerweile Sechsunddreißigjährigen war nichts von der unendlichen Vielfalt menschlicher Erfahrungen der Freude und des Leids mehr unbekannt, er hatte all das selbst erfahren und beherrschte alle bekannten Techniken des Denkens und Meditierens. Was ihm noch fehlte, war die Erweckung – und die musste er auf einem ihm bisher noch unbekannten Weg erlangen.
Als Gautama wieder normale Speisen aß, verließen ihn seine fünf Gefährten enttäuscht, und er selbst ging nach einem Bad im Fluss Nairañjanâ nach Bodh-Gayā in ein nahe gelegenes Wäldchen, setzte sich unter einen Feigenbaum (= ficus religiosa, Pipalbaum) und war fest entschlossen, sich erst wieder zu erheben, wenn er sein Erwachen erreicht hatte.
Die Erweckung
Dort