Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Bald danach sehe ich uns wieder in einer ländlichen Wohnung vor der Stadt auf dem Wege nach der Teck, die mit ihren Albgeschwistern einladend niedersieht, inmitten eines von der Lauter durchflossenen Gartens mit Laube und Gartenhaus. Die Brüder gehen zur Schule, ich werde allein zu Hause unterrichtet, aber der Lerneifer hat merklich nachgelassen, weil der gewohnte Wettlauf mit Edgar abgestellt ist. Dieser wurde nun schon ein ganz gelehrtes kleines Haus und pflegte mich wegen meiner gräulichen Fehler im lateinischen Argument weidlich auszulachen, aber er gab mir von seiner jungen Weisheit nichts ab. Mein gutes Mütterlein studierte seine lateinischen Schulhefte nach, um mir daraus vorwärts zu helfen. Mehr Freude machten mir die lebenden Sprachen, das Französische und das Italienische, das sie mir so nebenher beibrachte, ich weiß selbst nicht wie. Aber ich hatte gar keinen Ehrgeiz mehr und verträumte am liebsten meine Zeit im Garten. Eine zahme Elster war meine Spielkameradin, die mich überall hin begleitete und mir die Haarnadeln vom Kopfe und meine kleinen Schmucksachen vom Halse stahl. Gelesen wurde über die Maßen viel, mit ausgesprochenem Für und Wider, Eindrücke, für die das Kind natürlich keine Erklärung hatte, die sich aber beim späteren Lesen immer wiederholten. So entzückte mich vor allem die Turandot, diese reizende Vereinigung von großem Schillerschem Faltenwurf mit leichtbeweglicher italienischer Grazie. Die Vorstellungswelten, die ich in den Büchern fand, waren mir alle schon geläufig. Unsere Mutter lebte und webte in Hellas und hatte daneben einen starken Zug zur romanischen Kultur. Der Vater wies auf deutsches Volkstum hin und huldigte auf Spaziergängen dem Genius loci, indem er von den Sagen der Schwäbischen Alb erzählte. Da er aber meist ebenso still und wortkarg wie die Mutter lebhaft und mitteilsam war, geriet das Deutschtum zunächst in Nachteil. Nur mit den altgermanischen Göttern waren wir von kleinauf vertraut und sie bildeten bei ihrer nahen Verwandtschaft mit den griechischen eine tiefsinnige Ergänzung zu diesen.
Die Kirchheimer Zeit ist für meine Eltern wohl die schwerste ihrer Ehe gewesen; die Lebensaussicht war eine Zeit lang nach allen Seiten verbaut. Meine Mutter fühlte sich dort tödlich vereinsamt; sie vermisste nun auch die treue Hopfsche Familie, bei der sie doch immer die ihr so nötige Ansprache gefunden hatte. Sie arbeitete sich ab, um neben den häuslichen Geschäften die Höschen und Jäckchen ihrer vier Buben aus alten Männerkleidern zurechtzuschneidern, eine Kunst, für die das Freifräulein von Brunnow nicht erzogen war. Für mich sorgten zarte Feenhände, dass ich fast immer niedlich gekleidet ging und ihr auch von dieser Seite keine Mühe machte. Des Abends las sie uns den Herodot vor; ihre ungeheure Spannkraft schnellte gleich wieder auf, wenn sie bei ihren Griechen war. Nebenher erschwang sie noch die Zeit, sich mitten im Kinderlärm schriftstellerisch zu betätigen; sie hatte keine Spur von literarischem Ehrgeiz und wollte nur zum Erwerb ein kleines Scherflein beitragen. So entstand ein Band Märchen, teils in Prosa, teils in Versen, der einige Jahre später (1867) bei Schober in Stuttgart erschien. Sie seien um einen Ton zu hoch gegriffen, sagte mein Vater, der übrigens seinen Segen dazu gab, nachdem sie die Scheu, ihm ihre Sachen zu zeigen, überwunden hatte. Die Erzählungen in Versen gelangen ihr besser, weil ihr die metrische Sprache natürlicher und einfacher lag als der Prosaton. Da wir wie Geschwister zusammenlebten, ließ sie mich Neunjährige in eine auf Island spielende Geschichte auch ein paar gereimte Zeilen hineinpfuschen. Als das fertige Gedicht, das am Ende eine gewisse Hast verriet, meinem Vater vorgelegt wurde, schrieb er neckend im gleichen Versmaß darunter:
Und zappelnd und verzweifelnd eilen
Zum letzten Zug die letzten Zeilen.
So etwas kränkte sie nicht nur nicht, sondern sie freute sich, dem ernsten, stillen Mann, neben dem sie immer wie ein überlebendiges Kind erschien, einen Strahl seines alten Humors entlockt zu haben. Auch eine Erzählung aus dem Dreißigjährigen Krieg hatte sie damals unter der Feder, die später gleichfalls gedruckt wurde. Da die Verfasserin Menschen und Dinge wenig kannte, und mehr in der Idee als in der Anschauung lebte, blieben ihre Gestalten etwas abstrakt und farblos. Sie war sich darüber vollständig klar, ja sie unterschätzte ihre Begabung weit, da sie auch ihre Verse, zu denen ein inneres Bedürfnis sie von kleinauf trieb, nicht als wirkliche poetische Erzeugnisse, sondern nur als unentbehrliche innere Entlastung gelten ließ. Mein Vater äußerte sich damals in seiner bildlichen Redeweise zu mir über ihre dichterischen Versuche:
Ihre Muse ist ein ganz hübsches Kind, aber sie hat zerrissene Strümpfe an.
Als ich dieses Urteil einmal ganz spät am Ende ihrer Tage der inzwischen achtzigjährig Gewordenen erzählte, antwortete sie lächelnd: Ich habe sie seitdem geflickt. Es hatte seine Richtigkeit. Ihre Gabe, sich poetisch auszudrücken, entwickelte sich mit den Jahren immer mehr, wie überhaupt ihre ganze Persönlichkeit bestimmt war, erst im höchsten Greisenalter, das bei ihr noch immer quellende Jugend war, eine süße duftende Reife zu erlangen wie eine alleredelste Weinsorte. Damals war sie noch brausender Most und gärte mit ihren Kindern um die Wette.
Was übrigens die zerrissenen Strümpfe betrifft, so gab es deren im Haus nur allzu viele; das mochte meinem Vater das Bild nahegelegt haben. Wenn Mama und Josephine sie nicht mehr bewältigen konnten, so wurde ein großer Pack daraus gemacht und an das geliebte »Waldfegerlein« gesandt, Rudolf Kauslers1 Nichte, so genannt nach meines Vaters gleichnamigem, ihr gewidmeten Gedicht. Sie war die Holdeste von den guten Holden, die unsere Kindheit betreuen halfen, auch äußerlich zart und leicht wie eine Elfe. Sie stopfte die Strümpfe mit Hingebung und mit dem Maschenstich, wonach sie wie neu wurden, und wenn der Pack zurückkam,