Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Als ich die Geschichte von dem Ichlosgewordenen »Ein Rätsel« schrieb, verweigerten mir alle sonst befreundeten Blätter die Aufnahme, weil ihnen die Erfindung: ein Mensch, der nach erschütternden Eindrücken vergessen hat, wer er ist, ganz und gar unmöglich deuchte; der Weltkrieg, der solcher Fälle eine Anzahl hervorbrachte, hat später für mich gezeugt. Zu guter Letzt versuchte ich es mit einer Zeitschrift von ausgesprochen naturalistischer Haltung, und diese wollte die Geschichte nehmen, eben um ihrer Neuheit willen, war aber nicht zufrieden mit dem Ausgang: dass der Ichlose, von allen staatlichen und bürgerlichen Unterscheidungszeichen Entblößte, als »Mensch an sich« in der staatlichen Ordnung nicht mehr leben kann und deshalb aus einer völlig fremdgewordenen Welt sich am Ende ohne Spur hinwegverliert. Die Schriftleitung forderte, dass der Unglückliche noch einmal aufgegriffen, dem Irrenhaus, dem er schon glücklich entgangen war, jetzt wirklich eingeliefert und zu voller Klärung des rätselhaften Falles mit einem psychiatrischen Gutachten versehen würde. Zu solchem Missverständnis konnte ich nur schweigen und mein Manuskript zurückziehen; hätte ich gestanden, dass es mir nicht auf das Pathologische, sondern auf das Metaphysische ankam, so würde ich eine schlechte Figur gemacht haben, denn die Metaphysik stand damals nicht hoch im Kurs. Als mir Jahrzehnte später von den Schülerinnen der Untersekunda eines Mädchengymnasiums eine Reihe von Fragen vorgelegt wurde, die sich auf das eben von ihnen in der Schule gelesene »Rätsel« bezogen und die ein inneres Eingehen auf den dunklen Gegenstand bewiesen, vor dem damals die weisen Männer versagt haben, da staunte ich und freute mich, wie sich unterdessen der Sinn für Gegenstände nicht alltäglicher Art in den Köpfen selbst der Jugendlichen geschärft hatte. Wenn nicht immer wieder die Jugend da wäre, um Fehlmeinungen zu berichtigen, wie könnte der Dichter seinen Weg wagen!
Frage ich mich jetzt, von welchen Einflüssen die immer wechselnde Stoffwahl meiner Bücher geleitet war, abgesehen von den »Florentiner Novellen«, deren Ursprung schon erklärt wurde, so komme ich zu der mich überraschenden Entdeckung, dass es vorwiegend Gefühle des Dankes und der Verpflichtung waren, nicht nur für Einzelne, sondern auch für ganze Völker und Kulturen, was mir einen Großteil meines Lebenswerke eingab. Oft war ich im Begriff, etwas völlig anderes, von mir sehnsüchtig Gehegtes zu schreiben, da schob sich die Erkenntnis dazwischen, dass etwas zu tun war, was in diesem Augenblick und so wie ich es in mir fühlte durch niemand anderen geschehen konnte, weil ich gerade an der Stelle stand, wo die magische Rute ausschlug. Bei meinen Erinnerungs- und biografischen Büchern war es ja selbstverständlich, aber auch die »Stadt des Lebens« und meine »Wandertage in Hellas« waren solche Danksagungen für Wohltaten, die mir aus der Berührung mit diesen Kulturwelten wieder und wieder flossen. Besonders in meinem Hellasbuch legte ich das Bekenntnis einer lebenslangen Dankesschuld nieder.
Aber auch meiner engeren und allerengsten Heimat, dem Schauplatz meiner Kinderspiele, fühlte ich mich zu solchem Liebesdienst verpflichtet. Es winkten mir aus meinen frühsten Erinnerungen rührend komische Gestalten nach, wie sie zu jener fernen Zeit das Schwabenland noch hervorbrachte, die aber, als ich schrieb, schon längst verschollen waren. Diese Menschen waren nicht sowohl an sich komisch gewesen, als dass sie durch den Gegensatz ihres hochgestimmten Idealismus zu der unvorstellbaren, ihnen nicht bewussten Enge ihres eigenen Lebensraumes komisch wirkten. Sie bauten ihre Gärtchen und winzigen Äcker, verkauften Haarnadeln und Schnupftabak, konnten aber auch Schiller auswendig und schwärmten für die Befreiung der Griechen. Dabei glaubten sie auch mit Inbrunst an das Krokodil von Esslingen, jenen Nachfahren des alten Tatzelwurms, der noch immer in den Kellern lag und gelegentlich weinschöpfende Mädchen fraß. Ihre Armut war ohne Ärmlichkeit und ohne Armeleutgeruch. Der Duft endlicher Blumen und sommerlichen Heus oder angezündeter Kartoffelfeuer umgibt ihre Gestalten, denen sich nach langem Liegen im Erinnerungsschrein auch noch ein leiser Lavendelgeruch wie aus großmütterlichen Schränken beigesellte. Sie sahen mich seit lange bittend an, dass ich sie vor dem Nichtgewesensein der letzten Vergessenheit bewahre, und das konnte in der Tat niemand außer mir, die ich meine Kinderjahre mit ihnen verlebt und ihre Art mit dem Herzen verstanden hatte, denn sie hingen durch Bande zärtlicher Liebe und Ehrfurcht mit meinem Elternhause zusammen. Nicht, als hätte ich sie einfach am Schopf nehmen und aus der Wirklichkeit in erfundene Lagen der Novelle versetzen können – solches gerät in den seltensten Fällen glücklich –, vielmehr musste ich sie zuerst in den Schmelztiegel werfen und aus ihren Bestandteilen andere verwandte Wesen bilden, wie sie jeweils zum Gang der Handlung nötig waren. Verschiedene Schauplätze meiner Kindertage ließ ich zum Hintergrund in einen zusammenrinnen und gab ihm den an wilde Lilien erinnernden Namen Ilgenau, worin mir jene frühe Unschuldswelt sich ausdrucksvoll zu spiegeln schien. In meinen späteren Erinnerungsbüchern habe ich einige von ihnen auch leibhaft eingeführt, unterdessen aber ließ ich sie vermummt in dem Reigen »Von Dazumal« tanzen, dem ich das Präludium »Es und Ich« – die Schmetterlingsjagd der Seele nach dem Unerreichlichen – voranstellte. Dieses Stück war schon viel früher geschrieben als das Buch und in dem Sammelwerk »Hie gut Württemberg allewege« bei Eugen Salzer in Heilbronn erschienen. Es war das erstemal, soweit ich sehen kann, dass eine solche Zusammenstellung gewagt wurde, die hernach mehrfach in missverständlichen Abwandlungen in der Literatur wiederkehrte, denn das jeweilige »Ich« wurde ganz persönlich mit irgendeinem fremden, unnahbar großen, tatsächlich vorhandenen Numen zusammengekoppelt, das nach der Kameradschaft nicht im mindesten fragte. Mein Es und Ich sind ein bescheidenes Paar, denn beide sind vom gleichen Stoff, sind