Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Die gewählten Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, denn jede Seite des Buches enthält solche Perlen reinsten Glanzes. Im schlichtesten dörflichen Rahmen zieht das natürliche Menschenleben, immer vom Wandel der Jahreszeiten begleitet, vorüber. Da gibt es kein Hoch und Niedrig, kein Reich und Arm, nicht einmal Bauer und Knecht, nur das Menschliche innerhalb der Naturgesetze: Alter und Jugend, Mann und Weib, Frau und Mädchen. Der Erdboden nährt alle, Kinder sind der höchste Besitz; um den Grund zu beschützen, zieht der Mann in den Kampf, die Liebe hofft und trauert, und über allen steht das unerbittliche Fatum. – Religiöse Vorstellungen fehlen merkwürdigerweise gänzlich: auch die Liebe erhofft sich keinen Fortbesitz jenseits des Grabes. Eben darum hält sie das Geliebte mit so inniger Gewalt umschlossen und findet keinen Trost als das Weiterlieben in der zärtlichen Erinnerung. Die abgeschiedene Seele, die das Haus umirrt und aus den Pappeln seufzt, führt nur ein freudeloses, schattenhaftes Dasein wie bei den Griechen. Von der Kirche und ihren Bräuchen ist nicht die Rede, und auch das Kreuz erscheint nicht als Symbol sondern nur als Gegenstand wie in der leonorenartigen Ballade von dem Toten, der sein Grabkreuz trennend zwischen sich und seine Geliebte stellt.
Unfassbar erschien es mir, als ich mit dem Buch zu Ende war, dass eine Sammlung von so fremdartiger und doch tief vertrauter Schönheit nicht alle nach reinem Quell dürstende Seelen mit ihrem Labsal getränkt hatte, sondern lange Jahre nach ihrem Erscheinen so gut wie unbekannt und unverstanden dalag. Wir lebten freilich in einer gründlich verbildeten Zeit, wo das Dorf nach der Großstadt drängte und wo Nachkommenschaft vielfach als unerwünschte Begleiterscheinung der Ehe angesehen war, wo also sämtliche Leitgedanken dieser Gedichte in ihr Gegenteil verkehrt waren. Um so mehr hielt ich es für geboten, auf den vergrabenen Schatz hinzuweisen, von dem ich mir eine wundertätige Erfrischung des verkümmerten poetischen Gefühls versprach, und ich tat es 1903 in der von Alexander Bernus in München herausgegebenen Zeitschrift »Das Reich«, indem ich, mehr als es hier der Fall sein kann, den einzelnen Herrlichkeiten nachging, aber zugleich auch schon den Zweifel aussprach, ob denn diese bei aller Einfalt der Frühen doch so kunstreich durchgeführten, vielfache Lichter werfenden Gedichte überhaupt Volkspoesie sein konnten oder auch nur vom Volke selber in so vollkommener Gestalt bewahrt und überliefert, wobei es dann freilich ebenso unwahrscheinlich war, dass ein Gebildeter unserer Tage der Dichter sei. Ohne ein Misstrauen in die Angaben der königlichen Übersetzerin und Herausgeberin, deren Verdienst jedenfalls ein außerordentliches war, zu äußern, denn ich hielt sie selber für getäuscht, sprach ich den Wunsch aus, es möchten sich ernsthafte Forscher mit der Frage beschäftigen. Da erhielt ich eines Tages ein Schreiben von Frau Mite von Kemmnitz, der ehemaligen Hofdame und Freundin Carmen Silvas, worin mir in unmissverständlicher Weise zu verstehen gegeben war, dass es sich um eine bewusste Irreführung handle, als deren Grund nur ein königliches Tel est mon plaisir angedeutet werden konnte; mit näheren Angaben hielt die Schreiberin zurück. In der Tat, als sich rumänische Forscher mit der Herkunft der Gedichte nachdrücklicher beschäftigten, wurde die Fabel von ihrer Herkunft aus dem Tal der Dimbowitza gründlich widerlegt. Dies hatte die unglückliche Folge, dass die literarhistorische Frage mit der rein poetischen verquickt wurde und die unsagbar schönen Dichtungen mit der Marke der Fälschung bezeichnet, worauf sie aus dem Buchhandel und zugleich aus dem Gedächtnis der Menschen verschwanden. Als ob ihr dichterischer Wert mit der Frage ihrer Herkunft das geringste zu schaffen hätte. Ähnlich wurde ja auch Macphersons Ossian als Fälschung umstritten und hat doch Goethe und Herder begeistert. Aber hier war mehr als Ossian. Wer würde wohl die homerischen Gesänge eine Fälschung nennen, weil ihr Ursprung noch heute nicht geklärt ist? – Nicht einmal, in welcher Sprache diese Lieder zuerst gedichtet sind, kommt für ihre Wertung in Betracht, so ganz sind sie Sprache der Natur. Nur von der Annahme, dass der Balkan ihre Heimat sei, möchte man sich ungern trennen. Wer etwa denken würde, dass sie von der Königin selber seien, der braucht nur das vorangestellte Widmungsgedicht Carmen Silvas an ihr totes Kind zu lesen, so erkennt er trotz der versuchten Annäherung den Abstand zwischen dem, was unsere Großen als »naive« und »sentimentalische« Poesie unterschieden. Wie es sich in Wahrheit verhält, das dürfte von heute lebenden Personen nur noch eine einzige wissen.
Nach dieser Abschweifung in den »eigentlichen Tag« kehre ich nunmehr wieder in die Welt der »Uhren« zurück und fahre in meiner Chronik äußerer Erlebnisse fort.
Einen weiteren Zuwachs der Künstlerkolonie brachte der jetzt verstorbene Maler Ernst Sattler mit seinen drei schönen kunstbegabten Töchtern und einem Sohn, der durch Takt und natürliche Liebenswürdigkeit der heimliche Liebling aller war. Dem Sattlerschen Mädchenkleeblatt entsprachen die drei Großen von den ebenso schönen und begabten Hildebrandstöchtern, von denen die Älteste den jungen Sattler heiratete. Ein besonderer Schützling meiner Mutter war ein junger Belgier, den sie in San Francesco einführte und die aufkeimende Neigung zwischen ihm und einer der jüngeren Hildebrandstöchter beschirmte, bis die Verlobung zustande kam. Da waren zwei uns befreundete deutsche Maler, die heute in München leben: ein Schwabe, im Bekanntenkreis Giovanni genannt, der sich einen Ruf als Bildnismaler erworben hat, und sein in den gleichen Bahnen wandelnder ostpreußischer Lebensfreund Martino. Die beiden sah man nie anders als gemeinsam, daher ein Spaßvogel sie »die zwei Ajax« nach der Offenbachschen Operette nannte. Da war ferner ein eigenartiger Rheinländer, der Böcklins jüngere Tochter Angela heimführte und sich später in Rom ankaufte. Und da war vor allem, unserem Hause am nächsten verbunden, der begabte Bildhauer Georg Römer. Obgleich dieser Freund, der mir über ein Jahrzehnt hinaus mit seltener Bereitschaft und Anhänglichkeit zur Seite stand, späterhin durch äußere und innere Wirrungen völlig aus meinem Dasein ausschied, war mir doch in dem Lebensabschnitt, von dem hier die Rede ist, seine Freundschaft zu wertvoll, als dass dem nun seit lange Dahingegangenen sein Platz in meinen Erinnerungen genommen werden könnte.
Dieser schöne, von reinem und hohem Kunststreben beseelte Mensch hatte bei trefflichen Anlagen einen unglücklichen Tropfen im Blut, der ihn friedelos machte. Mit seinem schwermütigen bronzenen Kopf, der an den asketisch verzückten musizierenden Mönch auf Giorgiones Konzert erinnerte, und einem echten herzlichen Entgegenkommen gewann er leicht die Zuneigung der Menschen, um sich nach kurzem