Warum Gott?. Timothy Keller
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Das Elefanten-Beispiel ist ein Schuss, der nach hinten losgeht. Die Geschichte wird nämlich aus der Perspektive von jemandem erzählt, der nicht blind ist. Woher will ich denn wissen, dass jeder der Blinden nur einen Teil des Elefanten erfasst, wenn ich nicht selber für mich in Anspruch nehmen kann, den ganzen Elefanten zu sehen?
Sie sieht demütig aus, die Versicherung, dass die Wahrheit ja viel größer ist als alles, was Menschen fassen können, aber wenn man sie als Mittel benutzt, um alle Wahrheitsansprüche für ungültig zu erklären, ist sie nichts als die höchst anmaßende Behauptung, über ein Wissen zu verfügen, das [allem anderen Wissen] überlegen ist. … Wir müssen hier fragen: „Was ist der [absolute] Bezugspunkt, von dem aus du behauptest, in der Lage zu sein, all die absoluten Behauptungen, die diese verschiedenen heiligen Schriften aufstellen, relativieren zu können?“ 20
Woher wollen Sie wissen können, dass keine Religion die ganze Wahrheit sieht, wenn Sie nicht selber über diese ganze Wahrheit verfügen? – Von der sie gerade behauptet haben, dass niemand sie hat.
„Der religiöse Glaube ist zu sehr ein Produkt der Geschichte und Kultur, um ,wahr‘ sein zu können.“
Als ich vor zwanzig Jahren nach New York kam, hörte ich oft das Argument, dass alle Religionen gleich wahr seien. Heute höre ich öfter, dass alle Religionen gleich falsch sind. Das geht dann ungefähr so: „Alle moralischen und spirituellen Behauptungen sind das Produkt unseres jeweiligen historischen und kulturellen Augenblicks; daher kann niemand behaupten, dass er die Wahrheit kennt, weil niemand beurteilen kann, ob die eine Aussage über die moralische oder spirituelle Realität zutreffender ist als die andere.“
Der Religionssoziologe Peter L. Berger hat die Unhaltbarkeit dieser häufig zu hörenden Behauptung aufgezeigt: In seinem Buch Auf den Spuren der Engel zeichnet er nach, wie im 20. Jahrhundert die „Soziologie des Wissens“ entdeckt wurde, also dass die Menschen das, was sie glauben, weitgehend deswegen glauben, weil sie gesellschaftlich dazu konditioniert worden sind. Wir denken gerne, dass unser Denken uns selber gehört, aber so einfach ist es nicht. Wir denken vielmehr wie die Menschen, die wir am meisten bewundern bzw. brauchen. Jeder Mensch gehört zu einer Gruppe, in der bestimmte Ansichten gelten und andere verneint werden. Berger bemerkt, dass viele aus dieser Tatsache den Schluss gezogen haben, dass es, da wir doch alle Gefangene unserer historischen und kulturellen Umgebung sind, nicht möglich ist, zu beurteilen, wie wahr oder falsch eine bestimmte Ansicht oder ein Glaube ist.
Doch dieser absolute Relativismus, so Berger weiter, funktioniert nur dann, wenn die Relativisten sich selber absolut, also gerade nicht relativ setzen.21 Wenn ich aus der gesellschaftlichen Bedingtheit allen Glaubens den Schluss ziehe, dass kein Glaube als für alle Menschen wahr betrachtet werden kann, ist diese Aussage ja selber wieder das Produkt bestimmter sozialer und kultureller Faktoren – und kann nach den Spielregeln der Relativisten nicht universal wahr sein. Der Relativismus, so Berger, relativiert sich selber und lässt sich letztlich nicht durchhalten.22 Sicher, unsere kulturellen Scheuklappen erschweren es uns, zwischen miteinander konkurrierenden Wahrheitsansprüchen abzuwägen. Die gesellschaftliche Bedingtheit von Glauben ist eine Tatsache, aber man kann sie nicht als Argument dafür benutzen, dass alle Wahrheit völlig relativ ist, oder das Argument widerlegt sich selber. Berger kommt zu dem Schluss, dass wir uns vor dem Abwägen religiöser Positionen nicht in das Klischee flüchten können, dass man die Wahrheit eben nicht erkennen könne. Die Denkarbeit bleibt uns nicht erspart, zu fragen, welche Behauptungen über Gott, über das Wesen des Menschen und über die spirituelle Realität wahr und welche falsch sind. Auf irgendeine Antwort auf diese Frage müssen wir unser Leben gründen.
Der Philosoph Alvin Plantinga vertritt seine eigene Version von Bergers These. Ihm werde oft gesagt: „Wenn Sie in Marokko geboren wären, wären Sie kein Christ, sondern ein Muslim.“ Plantingas Antwort:
Angenommen, wir räumen also ein, dass dann, wenn ich als Sohn muslimischer Eltern in Marokko und nicht christlicher Eltern in Michigan geboren wäre, meine Religion ganz anders geworden wäre. [Aber] das Gleiche gilt natürlich für den Pluralisten selber. … Wenn er in [Marokko] geboren worden wäre, wäre er heute sehr wahrscheinlich kein Pluralist. Folgt daraus also … dass seine pluralistischen Überzeugungen das Ergebnis eines unzuverlässigen Erkenntnisprozesses sind? 23
Plantinga und Berger sagen das Gleiche. Man kann nicht sagen: „Alle Aussagen über die Religionen sind historisch bedingt und relativ, außer der, die ich gerade mache.“ Warum sollten wir jemandem, der behauptet, dass niemand entscheiden kann, welcher Glaube richtig und welcher falsch ist, glauben? Tatsache ist, dass wir alle im Leben Wahrheitsbehauptungen machen und dass es sehr schwierig ist, diese Behauptungen abzuwägen, aber dass wir dazu keine Alternative haben.
„Es ist anmaßend, wenn jemand behauptet, dass seine Religion die richtige ist, und versucht, andere zu ihr zu bekehren.“
Der bekannte Religionswissenschaftler John Hick schreibt: Wenn ich merke, dass es viele Menschen gibt, die so gut und intelligent sind wie ich selber, aber einer anderen Religion angehören, und wenn sie sich nicht von meiner Religion überzeugen lassen, dann ist es arrogant, wenn ich trotzdem versuche, sie zu bekehren, oder wenn ich meine Religion für die bessere halte.24
Auch dieses Argument stolpert über sich selber. Die meisten Menschen in der Welt teilen Hicks Ansicht nicht, dass alle Religionen gleich „richtig“ sind, und viele dieser Menschen sind so intelligent und gut wie Hick und nicht bereit, ihre Meinung zu ändern. Das macht die Behauptung, dass es anmaßend und falsch sei, wenn jemand behauptet, dass seine Religion die richtige ist, selber zu einer anmaßenden und falschen Aussage.
Man hört heute oft, dass es „ethnozentrisch“ (also eine Form von Rassismus bzw. von Verblendung durch die eigene Kultur) sei, zu behaupten, dass die eigene Religion besser sei als andere. Aber ist diese Aussage nicht selber genauso ethnozentrisch? Die meisten nicht westlichen Kulturen haben keine Probleme damit, zu behaupten, dass ihre eigene Kultur und Religion die beste ist. Die Vorstellung, dass man so etwas nicht behaupten darf, ist zutiefst in der westlichen Tradition der Selbstkritik und des Individualismus verwurzelt. Wer anderen die „Sünde“ des Ethnozentrismus vorwirft, sagt damit praktisch: „Die Art, wie unsere Kultur andere Kulturen sieht, ist fortschrittlicher als eure Art.“ Womit wir eben dasselbe tun, was wir den anderen verbieten wollen.25 Der Historiker C. John Sommerville stellt fest, dass „man eine Religion nur auf der Grundlage einer anderen Religion beurteilen kann.“ Um eine Religion bewerten zu können, brauche ich gewisse ethische Kriterien, die letztlich aus meiner eigenen Religion kommen.26
Ich glaube, der Grunddenkfehler in dieser Art, sich mit der Religion allgemein und dem Christentum im Besonderen auseinanderzusetzen, ist offensichtlich: Der Skeptiker glaubt, dass jede Behauptung, im Bereich der spirituellen Realität die Wahrheit zu kennen, falsch sein muss. Aber diese Behauptung ist ja selber eine religiöse Glaubensaussage. Sie geht von dem Dogma aus, dass man Gott nicht erkennen kann oder dass Gott nur die Liebe ist, aber niemals zornig, oder dass er eine das Universum durchdringende „Kraft“ ist und nicht eine Person, die in heiligen Schriften zu uns spricht – lauter unbeweisbare Glaubensaussagen. Und dazu glauben die Vertreter dieser These auch noch, dass ihr Weltbild das bessere sei. Sie glauben, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn die Menschen ihre traditionellen Ansichten über Gott und die Wahrheit aufgeben und dafür ihre Position annehmen würden. Womit dieses Weltbild selber ein Glaube ist, der beansprucht, der allein wahre zu sein. Wenn alle Weltanschauungen, die behaupten, die einzig wahren zu sein, abzulehnen sind, dann diese ganz gewiss auch. Und wenn es nicht „intolerant“ ist, diese Anschauung zu vertreten, warum soll es dann intolerant sein, sich an eine der traditionellen Religionen zu halten?
Mark Lilla, Professor an der University