Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур Шницлер
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler - Артур Шницлер страница 27
Hugo saß auf seinem Diwan und starrte der Mutter entgegen, wie aus wüstem Schlafe aufgeschreckt, mit weiten Augen. Über seine Stirne huschten sonderbare Schatten von dem unsichern Licht der elektrischen Lampe, die, grün beschirmt, auf dem Tisch mitten im Zimmer stand. Beate blieb eine Weile an der Türe stehen, Hugo warf den Kopf zurück, es schien, als wollte er sich erheben; doch er blieb sitzen, die Arme von sich gestreckt, die Hände flach auf den Diwan gestützt. Beate fühlte die Starrheit dieses Augenblickes mit herzrührender Pein. Ein Schreck ohnegleichen griff an ihre Seele; und sie sagte sich: er weiß alles. Was wird geschehen? dachte sie noch im selben Atemzug. Sie trat auf ihn zu, zwang sich zu einer heitern Miene und fragte: »Du hast geschlafen, Hugo?« »Nein, Mutter,« erwiderte er, »ich bin nur so gelegen.« Sie blickte in ein blasses, zerquältes Kindergesicht; ein unsägliches Mitleid, in dem ihr eigner Jammer untergehen wollte, stieg in ihr auf, sie legte, schüchtern noch, die Finger auf seine wirren Haare, umfaßte seinen Kopf, setzte sich neben ihn, und zärtlich begann sie: »Na, mein Bub«, — doch wußte sie nichts weiter zu sagen. Seine Mienen verzerrten sich gewaltsam; sie nahm seine Hände, er drückte sie wie zerstreut, streichelte ihre Finger, blickte nach der Seite, sein Lächeln wurde maskenhaft, seine Augen röteten sich, seine Brust begann sich zu heben und zu senken, mit einemmal glitt er vom Diwan, lag der Mutter zu Füßen, den Kopf in ihrem Schoß und weinte bitterlich. Beate, zutiefst erschüttert und doch irgendwie befreit, da sie fühlte, daß er ihr nicht entfremdet war, sprach vorerst kein Wort, ließ ihn weinen, wühlte sanft in seinen Haaren und fragte sich in Herzensangst: Was mag geschehen sein? Und tröstete sich gleich wieder: vielleicht nichts Besonderes. Nichts anderes vielleicht, als daß ihm die Nerven versagen. Und sie erinnerte sich ganz ähnlicher krampfhafter Anfälle, denen ihr verstorbener Gatte unterworfen gewesen war, aus scheinbar nichtigen Gründen; nach der Erregung durch irgendeine große Rolle, nach irgendeinem Erlebnis, das seine Komödianteneitelkeit verletzt hatte, oder scheinbar ganz ohne Grund, wenigstens ohne einen, den sie zu entdecken vermochte. Und mit einemmal stieg es in ihr auf, ob sich Ferdinand nicht am Ende manchmal in ihrem Schoß von Enttäuschungen und Qualen ausgeweint, die er bei einer andern Frau erduldet hatte? Aber was kümmerte sie das! Was immer er begangen, er hatte gesühnt, und alles das war weit, so weit. Ihr Sohn war es ja, der heute in ihrem Schoße weinte, und sie wußte nun, daß er’s um Fortunatens willen tat. Mit welchem Weh griff dieser Anblick an ihr Herz. In welche Tiefen versank ihr eigenes Erlebnis nun, da sie sich der Seelenpein ihres Sohnes gegenüberfand. Wohin schwand ihre Schmach und Qual und Todessehnsucht vor dem brennenden Wunsch, das geliebte Menschenkind aufzurichten, das in ihrem Schoße weinte. Und im überquellenden Drang ihm wohlzutun, flüsterte sie: »Wein nicht, mein Bub. Es wird schon alles wieder gut werden.« Und wie er den Kopf in ihrem Schoß zu einem »Nein« bewegte, wiederholte sie in festerem Ton: »Alles wird wieder gut, glaube mir.« Und sie erkannte, daß sie dies Wort des Trostes nicht nur an Hugo, daß sie es auch an sich selber gerichtet hatte. Wenn es in ihrer Macht stand, ihrem Sohne wieder aus der Verzweiflung emporzuhelfen, ihn mit neuem Daseinsmut zu erfüllen, so mußte aus diesem Bewußtsein allein, mehr noch aus seinem Dank, aus seinem Wieder-ihr-gehören ihr selbst Möglichkeit, Pflicht und Kraft des Weiterlebens neu erstehen. Und mit einemmal tauchte das Bild jener phantastischen Landschaft in ihr empor, in der mit Hugo wandelnd sie sich früher geträumt hatte; und verheißungsvoll mit heraufschwebte der Gedanke: wenn ich mit Hugo die Reise unternähme, die ich ja schon geplant, ehe die furchtbare Stunde an mir vorbeigezogen? Und wenn wir von dieser Reise nicht in die Heimat wiederkehrten? Und draußen in der Fremde, fern von allen Menschen, die wir gekannt haben, in einer reinen Luft, ein neues, ein schöneres Leben anfingen?
Da hob er plötzlich das Haupt aus ihrem Schoß, mit irren Augen, verzerrten Lippen, und heiser schrie er: »Nein, nein, es wird nicht wieder gut.« Und erhob sich, sah die Mutter wie abwesend an, tat ein paar Schritte zum Tisch hin, als suchte er dort etwas, ging dann einige Male im Zimmer hin und her mit gesenktem Kopf und blieb endlich regungslos am Fenster stehen, den Blick in die Nacht gewandt. »Hugo«, rief die Mutter, die ihm mit den Augen gefolgt war, aber sich nicht fähig fühlte, vom Diwan aufzustehen. Und noch einmal flehend: »Hugo, mein Bub!« Dann wandte er sich nach ihr um, wieder mit jenem starren Lächeln, das ihr nun schon weher tat als sein Aufschrei. Und bebend fragte sie wieder: »Was ist geschehen?«
»Nichts, Mutter«, erwiderte er mit einer Art von entrückter Heiterkeit.
Nun stand sie entschlossen auf und trat zu ihm. »Weißt du denn, warum ich zu dir hereingekommen bin?« Er sah sie nur an. »Nun, rat einmal.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab dich fragen wollen, ob du nicht mit mir eine kleine Reise machen möchtest.« »Eine Reise«, wiederholte er scheinbar verständnislos.
»Ja, Hugo, eine Reise — nach Italien. Wir haben ja Zeit, die Schule beginnt erst in drei Wochen. Bis dahin können wir lange zurück sein. Nun, wie denkst du darüber?« »Ich weiß nicht«, antwortete er. Sie legte den Arm um seinen Hals. Wie ähnlich er Ferdinand sieht, dachte sie plötzlich. Einmal hat er einen ganz jungen Burschen gespielt, da hat er geradeso ausgesehen. Und sie scherzte: »Also, wenn du’s nicht weißt, Hugo, ich weiß es ganz bestimmt, daß wir reisen werden. Ja, mein Bub, darüber ist gar nichts mehr zu reden. Und jetzt, trockne dir deine Augen, kühl’ dir deine Stirn, und wir wollen zusammen fortgehen.« »Fortgehen?« »Ja, natürlich! Es