Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур Шницлер
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler - Артур Шницлер страница 28
Als sie beide aus dem Hause traten, kam eben das Mädchen von seinem Sonntagsausgang zurück. So untertänig es grüßte, Beate erkannte mit einemmal an einem fast unmerklichen Augensenken dieser Person, daß sie alles wußte, was im Laufe der letzten Wochen hier im Hause vorgegangen war. — Doch lag ihr wenig daran. Alles war ihr nun gleichgültig gegenüber dem Glücksgefühl, dem langentbehrten, daß sie Hugo an ihrer Seite hatte.
Sie spazierten zwischen den Wiesen weiter, unter dem stummen Nachtblau des Himmels, nahe nebeneinander, und so rasch, als hätten sie ein Ziel. Anfangs sprachen sie kein Wort. Doch ehe sie in das Dunkel des Waldes traten, wandte sich Beate an ihren Sohn: »Willst du dich nicht einhängen, Hugo?« Er nahm ihren Arm, und ihr ward wohler zumut. Sie gingen weiter im schweren Schatten der Bäume, durch deren dichtes Geäst von Stelle zu Stelle ein Lichtschein aus einer der in der Tiefe liegenden Villen durchbrach. Beate ließ ihre Hand auf die Hugos gleiten, streichelte sie, hob sie dann zu ihren Lippen und küßte sie. Er ließ es geschehen. Nein, er wußte nichts von ihr. Oder nahm er es nur hin? Verstand er es, obwohl sie seine Mutter war? Bald kamen sie durch einen breiten grünlich-blauen Lichtstreifen, der vor das Parktor der Welponerschen Villa fiel. Nun hätten sie einander von Angesicht zu Angesicht sehen können, aber sie blickten weiter vor sich ins Dunkle, das sie gleich wieder aufnahm. In diesem Teil des Waldes war die Finsternis so dicht, daß sie ihre Schritte verlangsamen mußten, um nicht zu stolpern. »Gib acht«, sagte Beate von Zeit zu Zeit. Hugo schüttelte nur den Kopf, und sie hielten sich fester aneinander. Nach einer Weile führte ein Pfad ab, der, ihnen von lichteren Stunden wohlbekannt, zum See hinunterführte. Auf diesen Weg bogen sie ab und traten nun bald wieder in eine matte Helligkeit, da die Bäume, weiter abgerückt, einen Wiesenplatz freiließen, über dem, noch immer sternenlos, der Himmel stand. Von hier führten verwitterte Holzstufen, an deren einer Seite ein schwankes Geländer den Händen Stütze bot, auf die Landstraße hinab, die zur Rechten sich in die Nacht verlor, links aber dem Orte wieder zuführte, von dem ihnen zahlreiche Lichter entgegenschimmerten. Nach dieser Richtung, in unausgesprochenem Einverständnis, wandten Beate und Hugo ihre Schritte. Und als hätte der gemeinsame Spaziergang durchs Dunkel sie ohne weitere Aussprache doch wieder mit ihm vertrauter gemacht, sagte Beate in harmlosem, beinahe scherzhaftem Tone: »Das hab’ ich gar nicht gern, Hugo, wenn du weinst.« Er erwiderte nichts, ja blickte absichtlich von ihr fort über den stahlgrauen See, der nun als ein schmaler Streifen sich längs der Berge drüben dehnte. »Früher einmal,« begann Beate von neuem, und es war ein Seufzen in ihrer Stimme, »früher hast du mir alles erzählt.« Und während sie das sagte, war ihr mit einem Male wieder, als richtete sie diese Worte eigentlich an Ferdinand und als wollte sie von ihrem toten Gatten alle die Geheimnisse erkunden, die er ihr schnöde verschwiegen, als er noch auf Erden wandelte. Werd’ ich wahnsinnig? dachte sie, bin ich’s schon? Und wie um sich in die Wirklichkeit zurückzurufen, faßte sie so heftig den Arm Hugos, daß dieser fast erschreckt zusammenfuhr. Sie aber sprach weiter: »Ob dir nicht leichter würde, Hugo, wenn du mir erzähltest?« Und sie hing sich wieder in ihn ein. Aber während ihre eigene Frage in ihr weiterklang, spürte sie leise, daß nicht nur der Wunsch, Hugos Seele zu entlasten, ihr diese Frage in den Mund gelegt hatte, sondern daß auch eine sonderbare Art von Neugier in ihr zu wühlen begann, deren sie sich im Tiefsten ihrer Seele schämen müßte. Und Hugo, als ahnte er die geheimnisvolle Unlauterkeit ihrer Frage, antwortete nichts, ja, er ließ seinen Arm wie unabsichtlich aus dem ihrigen gleiten. Enttäuscht und allein gelassen ging Beate neben ihm einher, die traurige Straße weiter. Was bin ich in der Welt, fragte sie sich angstvoll, wenn ich nicht seine Mutter bin? Ist heut der Tag, um alles zu verlieren? Bin ich nichts weiter mehr als ein Lottername im Mund verdorbener Buben? Und jenes Gefühl des Zusammengehörens mit Hugo, des gemeinsamen Geborgenseins dort oben im holden Dunkel des Waldes, war das alles nur Täuschung? Dann ist das Leben nicht mehr zu tragen, dann ist wirklich alles vorbei. Doch warum schreckt mich der Gedanke so sehr? War es nicht längst entschieden? War ich nicht schon vorher entschlossen, ein Ende zu machen? Und hab’ ich nicht gewußt, daß mir nichts anderes übrigbleibt? Und hinter ihr, im Dunkel der Straße nachschleifend, wie höhnische Gespenster zischelten die fürchterlichen Worte, die sie heute durch den Fensterspalt zum erstenmal vernommen, die ihre Liebe und ihre Schmach, ihr Glück und ihren Tod bedeuteten. Und wie einer Schwester dachte sie für einen Augenblick jener andern, die einst längs eines Meeresstrandes hingelaufen war, von bösen Geistern gehetzt, müd von Lust und Qual …
Sie näherten sich der Ortschaft. Das Licht, das nun in einer Entfernung von wenigen hundert Schritten breit übers Wasser hinfiel, kam von der Terrasse, wo die befreundete Gesellschaft zu Nacht aß und ihrer wartete. Noch einmal in solch einen Lebensschein zu treten, schien Beaten unsinnig, ja völlig außer dem Bereich aller Möglichkeit. Warum ging sie diesen Weg? Warum blieb sie noch an Hugos Seite? Welche Feigheit war es gewesen, von ihm noch Abschied nehmen zu wollen, dem sie nichts mehr war als ein lästiges Weib, das sich in seine Geheimnisse drängen wollte. Da plötzlich sah sie seine Augen wieder auf sich gerichtet mit einem Blick des Hilfesuchens, der neue Angst und Hoffnung in ihr erweckte. »Hugo«, sagte sie. Und er, in verspäteter Antwort auf eine Frage, die sie selbst schon vergessen: »Es kann nicht wieder gut werden. Da hilft auch kein Erzählen. Es kann nicht.« »Aber Hugo,« rief sie aus wie erlöst, da er das Schweigen gebrochen hatte, »es wird sicher gut, wir fahren ja fort, Hugo, weit fort.« »Was hilft es uns, Mutter?« Uns—? Das geht auch auf mich! Aber ist es nicht besser so? Sind wir einander so nicht näher? Er ging rascher, sie hielt sich an seiner Seite, plötzlich blieb er stehen, sah auf den See hinaus und atmete tief, als käme aus der Einsamkeit über dem Wasser Trost und Frieden zu ihm. Draußen glitten ein paar beleuchtete Kähne hin. Könnte das schon unsere Gesellschaft sein? dachte Beate flüchtig. Mondschein werden sie freilich heute nicht haben. Und plötzlich kam ihr ein Einfall: »Wie wär’s, Hugo,« sagte sie, »wenn wir zwei … allein hinausführen?« Er sah zum Himmel auf, als suchte er oben nach dem Monde. Beate verstand den Blick und sagte: »Den brauchen wir ja nicht.« »Was tun wir denn da draußen auf dem dunklen Wasser?« fragte er schwach. Sie nahm ihn beim Kopf, blickte ihm in die Augen und sagte: »Du sollst mir erzählen. Du sollst mir sagen, was dir geschehen ist, wie du’s früher immer getan hast.« Sie ahnte, daß draußen in der Nachteinsamkeit des vertrauten Sees die Scheu von ihm weichen müßte, die ihn jetzt noch davon abhielt, der Mutter zu gestehen, was ihm widerfahren war. Da sie nun in seinem Schweigen keinen weiteren Widerstand spürte, wandte sie sich entschlossen der Bootshütte zu, wo ihr Kahn seinen Platz hatte. Die Holztüre war nur angelehnt. Sie trat mit Hugo in den dunklen Raum, kettete das Schiff los, eilfertig, als gälte es die Stunde nicht zu versäumen, dann schwang sie sich hinein, Hugo ihr nach. Er nahm eines der Ruder, stieß ab, und in der Sekunde darauf war der freie Himmel über ihnen. Hugo nahm nun auch das zweite Ruder und führte den Kahn längs des Ufers am Seehotel vorbei, so nahe, daß sie die Stimmen von der Terrasse zu hören vermochten. Es schien Beaten, als könnte sie die des Baumeisters aus den übrigen heraushören. Die einzelnen Gestalten und Gesichter waren nicht zu unterscheiden. Wie leicht es doch war, den Menschen zu entfliehen! Was liegt mir in diesem Augenblick daran, dachte Beate, was sie über mich reden, von mir glauben oder wissen —? Man stößt einfach mit einem Kahn