Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур Шницлер
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»Ja, ich… eine Verbrecherin war ich!«
»Frau Eberlein!«
»Gleich werden Sie mich verstehen… Ich bin nicht Frau Eberlein… ich bin Fräulein Martha Eberlein… Man hält mich nur für eine Witwe… Ich habe nichts dazu getan, um die Leute zu täuschen, aber ich konnte diese alten Geschichten doch nicht jedermann erzählen…«
»Nun ja, das darf Sie doch heute nicht mehr so entsetzlich quälen!«
»Oh, nicht das! Es sind zwanzig Jahre, daß ich verlassen wurde… verlassen, noch bevor er zur Welt kam, er, mein und sein Sohn. Und da… es ist nur der reine Zufall, daß er lebt, denn, Herr Doktor… ich hab’ ihn umbringen wollen in der ersten Nacht!… Ja, schaun Sie mich nur so an!… Allein und verzweifelt stand ich da… Aber ich will mich nicht reinwaschen… Ich nahm Decken und Linnenzeug und legte es über ihn und dachte, er werde ersticken… Dann in der Früh’ nahm ich furchtsam die Decken wieder weg… und er wimmerte! Ja, er wimmerte – und atmete – und lebte!« Sie weinte, die arme Frau. Mir selber versagten die Worte. Sie aber fuhr nach einem kurzen Schweigen fort:
»… Und er sah mich an mit großen Augen und wimmerte in einem fort! Und ich, vor diesem kleinen Ding, das noch keinen Tag alt war, mußte ich erbeben… Ich weiß noch genau, daß ich es vielleicht eine Stunde lang anstarrte und dachte: Welch ein Vorwurf liegt in diesen Augen! Und vielleicht hat es dich verstanden und klagt dich an! Und vielleicht hat es ein Gedächtnis und wird dich immer, immer anklagen… Und es wurde größer, das kleine Ding – und in den großen Kinderaugen immer derselbe Vorwurf. Wenn es mir mit den Händchen ins Gesicht fuhr, dachte ich: ja,… es wird dich kratzen, es will sich rächen, denn es erinnert sich an jene erste Nacht seines Lebens, wo du es unter Decken vergrubst…! – Und er begann zu lallen, zu sprechen. Ich hatte Angst vor dem Tage, wo er wirklich würde sprechen können. Aber das kam so allmählich – so allmählich. – Und immer wartete ich – immer, wenn er den Mund aufmachte, wartete ich: jetzt wird er es dir sagen. Ja, ja, er wird es dir sagen, daß er sich nicht täuschen läßt, daß all die Küsse, all die Liebkosungen, all die Liebe dich nicht zur wahren Mutter machen können. Er wehrte sich, er ließ sich nicht küssen, er war ungebärdig, er liebte mich nicht… Ich ließ mich schlagen von dem fünfjährigen Buben, und auch später noch ließ ich mich schlagen und lächelte… Ich hatte eine wahnsinnige Sehnsucht, meine Schuld loszuwerden, und wußte doch, daß es nimmer ginge! Konnt’ ich’s denn jemals sühnen?… Und, wenn er mich ansah, immer mit denselben fürchterlichen Augen…! Als er älter wurde, in die Schule ging, da wurde es mir vollends klar, daß er mich durchschaute… Und alles nahm ich reuig hin… Ach, er war kein gutes Kind… aber… ich konnte ihm nicht böse sein! Böse! oh, ich liebte ihn, liebte ihn bis zum Wahnsinn… Und mehr als einmal sank ich hin vor ihn, küßte seine Hände – seine Knie – seine Füße! – Oh, er verzieh mir nicht. – Kein Blick der Liebe, kein freundliches Lächeln… ! Er wurde zehn, zwölf Jahre alt; er haßte mich! – In der Schule tat er kein gut… Eines Tages kam er nach Hause mit trotzigen Worten: ›Es ist aus mit der Schule, sie wollen mich dort nicht mehr haben…‹ Oh, wie ich damals erbebte. Ich wollte ihn ein Handwerk lernen lassen – ich bat, ich flehte – er blieb starr – er wollte nichts von der Arbeit wissen. Er trieb sich herum… Was konnte ich ihm sagen – was ihm vorwerfen? Ein Blick von ihm machte all meinen Mut zunichte Wie zitterte ich vor dem Tage, wo er mir’s ins Gesicht sagen würde: ›Mutter, Mutter! Du hast das Recht auf mich verwirkt!‹ – Aber er sprach es nicht aus… Manchmal, wenn er trunken nach Hause kam, dachte ich: Nun wird ihm der Rausch die Zunge lösen… Aber nein… Da fiel er auch zuweilen hin und lag auf dem Boden bis in den hellen Mittag. Und wenn er dann erwachte und ich neben ihm saß, blickte er mich an mit Hohn… mit einem verständnisvollen Lächeln um die Lippen, ungefähr, als wollte er sagen: Wir wissen ja, woran wir sind…! Und Geld brauchte er, viel Geld, ich mußte es schaffen… Aber es ging doch nicht immer so, wie er wollte, und dann wurde er böse, bitterböse – oft hob er die Hand auf gegen mich… Und wenn ich müd aufs Bett gesunken war, stand er vor mir, wieder mit dem höhnischen Lachen, das bedeutete: Nein, den Gnadenstoß geh’ ich dir nicht!… Heute morgen endlich – polternd kam er herauf – ›Geld! Geld!‹ – Ja, um Gottes willen, ich hatte keines! – ›Wie? keines?‹ – Und ich beschwor ihn, er solle warten bis zur nächsten Woche, bis morgen, bis heut abend! Nein! Ich mußte ihm Geld geben – ich hatte es versteckt –, er schrie und suchte und riß die Kasten auf und das Bett… und fluchte… Und dann… und dann…«
Nun hielt sie inne… Nach einer Sekunde sagte sie: »Und war es nicht sein Recht?«
»Nein!« sagte ich… »Nein, Frau Eberlein!… Sie waren längst Ihrer Schuld ledig. Ihre tausendfältige Güte hat die Verwirrung eines Momentes, in dem ein Wahn Sie gefangen hielt, längst gesühnt!…«
»Nein, Herr Doktor!« erwiderte sie – »kein Wahn! Denn ich erinnere mich allzu deutlich jener Nacht… ich war nicht wahnsinnig, ich wußte, was ich wollte!… Und darum, Herr Doktor, gehen Sie vors Gericht, und erzählen Sie, was Sie hier von mir gehört; man wird ihn freilassen, man muß es tun…!«
Ich sah, daß ich hier schwer ankämpfen konnte. »Nun« – meinte ich – »wir sprechen morgen noch davon, Frau Eberlein – für heute tut Ihnen Ruhe not… Sie haben sich allzusehr angestrengt…!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Herr Doktor! – Der Wunsch einer Sterbenden ist heilig… Sie müssen es mir versprechen!«
»Sie werden nicht sterben – Sie werden sich erholen.« –
»Ich werde sterben – denn ich will es… Werden Sie zu Gericht gehen…?«
»Vor allem fügen Sie sich mir, und denken Sie, daß ich Ihr Arzt bin! Ich befehle Ihnen jetzt, zu schweigen und zu ruhen.«
Damit war ich aufgestanden und rief die Wartefrau herein. Aber Frau Eberlein ließ meine Hand nicht los, die ich ihr zum Abschied reichte – eine Frage glühte in ihren Augen.
»Ja!« sagte ich.
»Ich danke Ihnen!« erwiderte sie. Dann gab ich der Wärterin die nötigen Anordnungen und entfernte mich mit dem Vorsatze, morgen mit dem frühesten wiederzukommen…
Am Morgen fand ich die Kranke bewußtlos; zu Mittag war sie tot… Noch liegt ihr Geheimnis in mir, in diesen Blättern verborgen, und es steht mir frei, ihren letzten Wunsch zu erfüllen oder nicht. Ob ich zu Gericht gehe oder nicht – für den elenden Sohn dieser unseligen Mutter ist es dasselbe! Kein Richter der Welt wird die Verirrung der Mutter als mildernden Umstand für das todeswürdige Verbrechen des Sohnes gelten lassen. Der Sühne mehr als genug für diese unglückliche Mutter war der Wahn, in den Augen ihres Sohnes einen ewigen Vorwurf, eine stete Erinnerung an jene entsetzliche Nacht sehen zu müssen. –
Oder sollte es möglich sein? Bleiben uns selbst von den ersten Stunden unseres Daseins verwischte Erinnerungen zurück, die wir nicht mehr deuten können und die doch nicht spurlos verschwinden? – Ist vielleicht ein Sonnenstrahl, der durchs Fenster fällt, die allererste Ursache eines friedlichen Gemütes? – Und wenn der erste Blick der Mutter uns mit unendlicher Liebe umfängt, schimmert er nicht in den blauen Kinderaugen süß und unvergeßlich wider? – Wenn aber dieser erste Blick ein Blick der Verzweiflung und des Hasses ist, glüht er nicht mit zerstörender Macht in jene Kindesseele hinein, die ja tausenderlei Eindrücke aufnimmt, lange bevor sie dieselben zu enträtseln vermag? Und was mag sich in dem Empfindungskreise eines Kindes abspielen, dessen erste Lebensnacht in schauerlicher unbewußter Todesangst dahingegangen? Niemals noch hat ein Mensch von seiner ersten Lebensstunde zu berichten gewußt, – und keiner von euch – so könnte ich ja den Richtern sagen – kann wissen, was er von dem Guten und Schlechten, das er in