Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур Шницлер
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Was ist denn geschehen?
Es hat sich wieder einmal zugetragen, was alle Tage geschieht, und er ist einer von denen gewesen, über die manche lachen. Und er wird ja auch gewiß – morgen oder in wenigen Stunden schon – wird er all das Furchtbare empfinden, das jeder Mensch in solchen Fällen empfinden muß … er ahnt es ja, wie sie über ihn kommen wird, die namenlose Wut, daß dieses Weib zu früh für seine Rache gestorben; und wenn der andere wiederkehrt, so wird er ihn mit diesen Händen niederschlagen wie einen Hund. Ah, wie sehnt er sich nach diesen wilden und ehrlichen Gefühlen – und wie wohler wird ihm dann sein als jetzt, da die Gedanken sich stumpf und schwer durch seine Seele schleppen …
Jetzt weiß er nur, daß er plötzlich alles verloren hat, daß er sein Leben ganz von vorne beginnen muß wie ein Kind; denn er kann ja von seinen Erinnerungen keine mehr brauchen. Er müßte jeder erst die Maske herunterreißen, mit der sie ihn genarrt. Denn er hat nichts gesehen, gar nichts, hat geglaubt und vertraut, und der beste Freund, wie in der Komödie, hat ihn betrogen … Wäre es nur der, gerade der nicht gewesen! Er weiß es ja und hat es ja selbst erfahren, daß es Wallungen des Blutes gibt, die ihre Wellen kaum bis in die Seele treiben, und es ist ihm, als wenn er der Toten alles verzeihen könnte, was sie wieder rasch vergessen hätte, irgendwen, den er nicht gekannt, irgendeinen, der ihm wenigstens nichts bedeutet hätte – nur diesen nicht, den er so lieb gehabt wie keinen anderen Menschen und mit dem ihn ja mehr verbindet, als ihn je mit seinem eigenen Weib verbunden, die ihm niemals auf den dunkleren Pfaden seines Geistes gefolgt ist; die ihm Lust und Behagen, aber nie die tiefe Freude des Verstehens gegeben. Und hat er es denn nicht immer gewußt, daß die Frauen leere und verlogene Geschöpfe sind, und ist es ihm denn nie in den Sinn gekommen, daß sein Weib ein Weib ist, wie alle anderen, leer, verlogen und mit der Lust, zu verführen? Und hat er denn nie gedacht, daß sein Freund den Weibern gegenüber, so hoch er sonst gestanden sein mag, ein Mann ist wie andere Männer und dem Rausch eines Augenblicks erliegen konnte? Und verraten es nicht manche scheuen Worte dieser glühenden und zitternden Briefe, daß er anfangs mit sich gekämpft, daß er versucht hat, sich loszureißen, daß er endlich dieses Weib angebetet und daß er gelitten hat? … Unheimlich ist es ihm beinahe, wie ihm alles das so klar wird, als stünde ein Fremder da, ihm’s zu erzählen. Und er kann nicht rasen, so sehr er sich danach sehnt; er versteht es einfach, wie er es eben immer bei anderen verstanden hat. Und wie er nun daran denkt, daß seine Frau da draußen liegt, auf dem stillen Friedhof, da weiß er auch, daß er sie nie wird hassen können und daß aller kindische Zorn, selbst wenn er noch über die weißen Mauern hinflattern könnte, doch auf dem Grabe selbst mit lahmen Flügeln hinsinken würde. Und er erkennt, wie manches Wort, das sich kümmerlich als Phrase fristet, in einem grellen Augenblicke seine ewige Wahrheit zu erkennen gibt, denn plötzlich geht ihm der tiefe Sinn eines Wortes auf, das ihm früher schal geklungen: Der Tod versöhnt. Und er weiß es: wenn er jetzt mit einem Male jenem anderen gegenüberstände, er würde nicht nach gewaltigen und strafenden Worten suchen, die ihm wie eine lächerliche Wichtigtuerei irdischer Kleinlichkeit der Hoheit des Todes gegenüber erschienen – nein, er würde ihm ruhig sagen: Geh, ich hasse dich nicht.
Er kann ihn nicht hassen, er sieht zu klar. So tief kann er in andere Seelen schauen, daß es ihn beinahe befremdet. Es ist, als wäre es gar nicht mehr sein Erlebnis – er fühlt es als einen zufälligen Umstand, daß diese Geschichte gerade ihm begegnet ist. Er kann eigentlich nur eines nicht verstehen:
daß er es nicht immer, nicht gleich von Anfang an gewußt und – begriffen hat. Es war alles so einfach, so selbstverständlich, und aus denselben Gründen kommend wie in tausend anderen Fällen. Er erinnert sich seiner Frau, wie er sie im ersten, zweiten Jahre seiner Ehe gekannt, dieses zärtlichen, beinahe wilden Geschöpfes, das ihm damals mehr eine Geliebte gewesen ist als eine Gattin. Und hat er denn wirklich geglaubt, daß dieses blühende und verlangende Wesen, weil über ihn die gedankenlose Müdigkeit der Ehe kam – eine andere geworden ist? Hat er diese Flammen für plötzlich erloschen gehalten, weil er sich nicht mehr nach ihnen sehnte? Und daß es gerade – Jener war, der ihr gefiel, war das etwa verwunderlich? Wie oft, wenn er seinem jüngeren Freunde gegenübersaß, der trotz seiner dreißig Jahre noch die Frische und Weichheit des Jünglings in den Zügen und in der Stimme hatte – wie oft ist es ihm da durch den Sinn gefahren: Der muß den Weibern wohl gefallen können … Und nun erinnert er sich auch, wie im vorigen Jahre gerade damals, als … es begonnen haben mußte, wie Hugo damals eine ganze Zeit hindurch ihn seltener besuchen kam als sonst
… Und er, der richtige Ehemann, hat es ihm damals gesagt: Warum kommst du denn nicht mehr zu uns? Und hat ihn selbst manchmal aus dem Büro abgeholt, hat ihn mit herausgenommen aufs Land, und wenn er fort wollte, hat er selbst ihn zurückgehalten mit freundschaftlich scheltenden Worten. Und niemals hat er was bemerkt, nie das geringste geahnt. Hat er denn die Blicke der beiden nicht gesehen, die sich feucht und heiß begegneten? Hat er das Beben ihrer Stimmen nicht belauscht, wenn sie zueinander redeten? Hat er das bange Schweigen nicht zu deuten gewußt, das zuweilen über ihnen war, wenn sie in den Alleen des Gartens hin und her spazierten? Und hat er denn nicht bemerkt, wie Hugo oft zerstreut, launisch und traurig gewesen ist – seit jenen Sommertagen des vorigen Jahres, in denen … es begonnen hat? Ja, das hat er bemerkt, und hat sich auch wohl zuweilen gedacht: Es sind Weibergeschichten, die ihn quälen – und sich gefreut, wenn er den Freund in ernste Gespräche ziehen und über diese kleinlichen Leiden erheben konnte …
Und jetzt, wie er dieses ganze vergangene Jahr rasch an sich vorübergleiten läßt, merkt er nicht mit einem Mal, daß die frühere Heiterkeit des Freundes nie wieder ganz zurückgekommen ist, daß er sich nur allmählich daran gewöhnt hatte, wie an alles, was allmählich kommt und nicht mehr schwindet? …
Und ein seltsames Gefühl quillt in seiner Seele empor, das er sich anfangs kaum zu begreifen traut, eine tiefe Milde – ein großes Mitleid für diesen Mann, über den eine elende Leidenschaft wie ein Schicksal hereingebrochen ist; der in diesem Augenblick vielleicht, nein, gewiß mehr leidet als er; für diesen Mann, dem ja ein Weib gestorben, das er geliebt hat, und der vor einen Freund treten soll, den er betrogen.
Und er kann ihn nicht hassen; denn er hat ihn noch lieb. Er weiß ja, daß es anders wäre, wenn – sie noch lebte. Da wäre auch diese Schuld etwas, das von ihrem Dasein und Lächeln den Schein des Wichtigen liehe. Nun aber verschlingt dieses unerbittliche Zuendesein alles, was an jenem erbärmlichen Abenteuer bedeutungsvoll erscheinen wollte.
In die tiefe Stille des Gemachs zieht ein leises Beben … Schritte auf der Treppe. – Er lauscht atemlos; er hört