Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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Marcel Proust
Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
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- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0882-1
Inhaltsverzeichnis
Im Schatten der jungen Mädchen
Die Herzogin von Guermantes
Tage der Freuden:
Der Tod des Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie
Violante oder die Weltlichkeit
Fragmente einer italienischen Komödie
Weltlichkeit und Melomanie
Trauriger Landaufenthalt der Madame de Breyves
Die Beichte eines jungen Mädchens
Das große Diner
Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben
Im Schatten der jungen Mädchen
Meine Mutter sprach, als davon die Rede war, Herrn von Norpois zum erstenmal einzuladen, ihr Bedauern aus, daß Professor Cottard auf Reisen und sie selbst außer allem Verkehr mit Swann sei, denn beide wären ohne Zweifel für den ehemaligen Botschafter interessant gewesen; mein Vater antwortete, ein Gast von der Bedeutung, ein Gelehrter vom Range Cottards sei bei einem Diner immer am Platze, aber Swann mit seinem hochfahrenden Wesen, der aufdringlichen Art, seine belanglosesten gleichgültigsten Beziehungen auszuposaunen, sei ein gewöhnlicher Wichtigtuer, den der Marquis von Norpois, wie er sich ausdrückte, »übel« finden würde. Diese Erwiderung meines Vaters erfordert ein paar erklärende Worte, da sich mancher wohl noch eines recht mittelmäßigen Cottard und eines Swann entsinnen wird, der in gesellschaftlichen Dingen zurückhaltend diskret und äußerst taktvoll war. Allein, es war mit diesem alten Freunde meiner Eltern dahin gekommen, daß er »Swann junior« und den Swann vom Jockeyklub um eine neue Persönlichkeit vermehrt hatte (und es sollte die letzte nicht sein), um den Gatten Odettes. Wenn er den schlichten Ambitionen dieser Frau Instinkt, Begier und Umsicht, wie sie immer ihm geeignet hatten, anpaßte, so geschah, es in der Absicht, weit unter seiner alten Stellung eine neue anzulegen, die der Gefährtin, die sie mit ihm teilen sollte, entsprach. Er zeigte sich als ganz neuer Mensch. Da er (ohne seinen eigenen Verkehr mit persönlichen Freunden aufzugeben, denen er Odette nicht aufdrängen wollte, soweit sie sich nicht aus eigenem Antrieb um ihre Bekanntschaft bemühten) ein zweites Leben in Gemeinschaft mit seiner Frau mitten unter neuen Wesen begann, hätte man noch verstehen können, daß er, um den Rang dieser Leute und dementsprechend seine persönliche Genugtuung an ihrem Besuch abzuschätzen, als Vergleichspunkt zwar nicht die glänzendsten Erscheinungen der Gesellschaft, in derer vor seiner Ehe verkehrte, aber doch Odettes frühere Beziehungen genommen hätte. Allein selbst wenn man wußte, daß er jetzt mit uneleganten Beamten und zweifelhaften Frauen, den Blüten der Ministerbälle, anzuknüpfen wünschte, mußte man sich doch wundern, ihn, der ehedem und auch heute noch eine Einladung nach Twickenham oder Buckingham Palace so anmutig zu verheimlichen verstand, laut verkünden zu hören, die Frau eines stellvertretenden Kabinettchefs habe Frau Swann ihren Besuch abgestattet. Man wird das vielleicht so verstehen: die Einfachheit des eleganten Swann sei nur eine besonders raffinierte Form der Eitelkeit gewesen, und der alte Freund meiner Eltern habe nach Art gewisser Israeliten abwechselnd die verschiedenen Zustände darzustellen verstanden, welche die Leute seiner Rasse vom naivsten Snobismus und der flegelhaftesten Formlosigkeit bis zur vollendeten Höflichkeit nacheinander durchgemacht haben. Aber der Hauptgrund war einer, der sich auf Menschen im allgemeinen anwenden läßt: unsere Tugenden besitzen nicht an sich selbst die freie Beweglichkeit, die uns beständig über sie verfügen ließe; sie gehen in uns im Laufe der Zeit so enge Verbindung mit den Gelegenheiten ein, bei denen sie aus Pflicht von uns geübt werden, daß eine abweichende Wirksamkeit uns unvorbereitet findet und wir gar nicht auf den Gedanken kommen, sie gestatte die Anwendung eben dieser Tugenden. Bei seinem Eifer um die neuen Beziehungen, die er mit Stolz erwähnte, hatte Swann etwas von der Bescheidenheit und Hochherzigkeit großer Künstler, die sich am Ende ihres Lebens mit Küche und Gartenbau abgeben und eine naive Zufriedenheit über die Komplimente sehen lassen, die man ihren Gerichten oder Gartenbeeten spendet, in dieser Sache aber sich Kritik nicht bieten lassen würden, die sie, wo es um ihre Meisterwerke geht, gern hinnehmen; so geben sie auch eines ihrer Bilder für nichts her, werden aber gleich schlechter Laune, wenn sie im Domino zwei Franken verlieren.
Dem Professor Cottard wird man viel später, wenn wir auf dem Schlosse La Raspelière sind, mit Muße nähertreten. Für den Augenblick mögen, was ihn betrifft, einige Bemerkungen genügen. Bei Swann hat die Veränderung, streng genommen, etwas Überraschendes, da sie bereits vollzogen war und ich sie nicht vermutet hatte zur Zeit, als ich Gilbertes Vater in den Champs-Élysées sah, wo er mich übrigens nie anredete und somit seine politischen Beziehungen vor mir nicht zur Schau tragen konnte (nun, und selbst wenn er es getan hätte, wäre mir seine Eitelkeit vielleicht auch nicht gleich aufgefallen, denn die Vorstellung, die man sich längere Zeit von jemandem gemacht hat, blendet die Augen und verstopft die Ohren; drei Jahre hindurch bemerkte meine Mutter nicht die Schminke, die eine ihrer Nichten auf die Lippen tat, sie schien sich unsichtbar in etwas Flüssigem gelöst zu haben, bis dann eines Tages ein wenig Neuaufgelegtes oder sonst irgendeine Ursache das Phänomen der sogenannten Übersättigung herbeiführte, die ganze nie wahrgenommene Schminke kristallisierte, und meine Mutter angesichts dieses plötzlichen lasterhaften Übermaßes an Farbe erklärte, wie man in Combray getan hätte, es sei eine Schande, und fast ganz den Verkehr mit ihrer Nichte abbrach). Für Cottard aber lag die Epoche, da er Swanns erstem Auftreten im Hause Verdurin beigewohnt hatte, schon ziemlich weit zurück; nun kommen Ehren und öffentliche Auszeichnungen mit den Jahren; ferner kann man ungebildet sein, alberne Witze machen und dabei eine besondere Begabung besitzen, die durch keine allgemeine Kultur zu ersetzen ist, wie etwa die Begabung des großen Strategen oder des großen Chirurgen. In der Tat betrachteten seine Kollegen den Doktor Cottard nicht einfach als einen praktischen Arzt, der mit der Zeit eine europäische Größe geworden war. Die klügsten unter den jungen Medizinern erklärten – wenigstens ein paar Jahre hindurch, denn die Moden wechseln, da sie selber aus dem Bedürfnis nach Wechsel entstehen –, daß Cottard der einzige Meister sei, dem sie ihre Haut anvertrauen wollten, wenn sie jemals krank würden. Im gesellschaftlichen Verkehr bevorzugten sie allerdings gewisse andere Professoren, die gebildeter und kunstsinniger waren, mit denen sich von Nietzsche und Wagner sprechen ließ. Wenn Frau Cottard musikalische Abende veranstaltete, bei denen sie die Kollegen und Schüler ihres Gatten empfing in der Hoffnung, daß er eines Tages Dekan der Fakultät werde, so zog Cottard