Selbstbetrachtungen. Marc Aurel
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9.
Wie schnell doch alles verschwindet! In der Welt die Menschen selbst, in der Zeit ihr Gedächtnis! Was sind doch alle Gegenstände der Sinnenwelt und zumal diejenigen, welche durch Lust anlocken oder durch Unlust zurückschrecken oder durch eitle Einbildung laut angepriesen werden; wie geringfügig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig und tot! Darüber nachzusinnen geziemt unserem Denkvermögen. Wer sind die, deren Meinungen und Urteile Ruhm verleihen? Was heißt sterben? Wenn man es an und für sich betrachtet und in Gedanken davon absondert, was Einbildung ihm angeheftet hat, so wird man darin nichts anderes mehr erblicken können als eine Wirkung der Natur. Wer sich aber vor einer Naturwirkung fürchtet, ist ein Kind. Doch es ist nicht bloß eine Wirkung der Natur, sondern auch eine ihr heilsame Wirkung. – Wie steht endlich der Mensch mit Gott in Berührung, und durch welchen Teil seines Wesens und in welchem Zustande befindet er sich dann, wenn dieses Körperteilchen zerstäubt ist?
10.
Es gibt nichts Elenderes als einen Menschen, der alles wie im Kreise durchläuft, die Tiefen der Erde, wie jener Dichter sagt, ergründen will und, was im Innern der Seele seines Nebenmenschen vorgeht, zu erraten sucht, daneben aber nicht einsieht, dass es für ihn genüge, mit dem Genius seines Innern zu verkehren und diesem nach Gebühr zu dienen. Dieser Dienst besteht aber darin, ihn von Leidenschaft, Eitelkeit und Unzufriedenheit mit dem Tun der Götter und Menschen rein zu erhalten; denn was von den Göttern ausgeht, muss ihm ja wegen ihrer Vollkommenheiten ehrwürdig, was von den Menschen geschieht, wegen der Verwandtschaft mit ihnen wert sein. Freilich ist letzteres bisweilen gewissermaßen auch mitleidswert wegen ihrer Unkenntnis des Guten und des Bösen: ein Gebrechen wie dasjenige, welches uns die Fähigkeit nimmt, Weiß und Schwarz voneinander zu unterscheiden.
11.
Solltest du auch dreitausend Jahre und ebensoviele Myriaden noch dazu leben, so bleibe doch dessen eingedenk, dass niemand ein anderes Leben verliert als dasjenige, welches er wirklich lebt, und kein anderes lebt als dasjenige, welches er verliert. Das längste Leben ist also hierin dem kürzesten gleich. Ist ja doch der gegenwärtige Zeitpunkt bei allen derselbe, und der verloren gehende sollte nicht gleich sein? Wirklich erscheint auch der, den man verliert, nur so wie ein Augenblick; denn weder den vergangenen, noch den künftigen kann eigentlich jemand verlieren; denn wie sollte man ihm das, was er nicht hat, entreißen können? Folgende zwei Wahrheiten muss man sich also merken: einmal, dass von Ewigkeit her alles gleich ist und sich im Kreis bewegt und dass es keinen Unterschied macht, ob einer dieselben Dinge hundert oder zweihundert Jahre oder eine grenzenlose Zeit hindurch beobachtet; zum anderen, dass der Längstlebende und der sehr jung Dahinsterbende gleichviel verlieren; denn nur der gegenwärtige Augenblick ist es, dessen jeder verlustig gehen kann, da er ja diesen doch allein besitzt; was einer aber nicht besitzt, das kann er auch nicht verlieren.
12.
Die Seele des Menschen schadet sich dann besonders selbst, wenn sie durch ihre eigene Schuld ein Auswuchs und sozusagen ein Geschwür der Welt wird. Denn schon über irgendein Ereignis unzufrieden sein, heißt von der Natur sich lossagen, welche in ihren Teilen das Wesen aller einzelnen Dinge umschließt. Sodann entehrt sie sich auch, wenn sie einen Menschen verabscheut oder mit der Absicht, zu schaden, ihm feindlich entgegentritt, wie es die Zürnenden machen. Drittens würdigt sie sich selbst herab, wenn sie der Lust oder Unlust unterliegt. Viertens, wenn sie heuchelt und im Tun oder Reden Verstellung und Unwahrheit beweist. Fünftens, wenn sie eine ihrer Handlungen und Bestrebungen nicht auf einen Zweck bezieht, sondern ohne Besonnenheit und Folgerichtigkeit irgendetwas treibt, da doch die unbedeutendsten Äußerungen unserer Tätigkeit mit Bezug auf einen Zweck geschehen sollen. Zweck aller vernunftbegabten Wesen aber ist, den Grundsätzen und Satzungen des ältesten Gemeinwesens und der ehrwürdigsten Staatsverfassung zu folgen – nämlich dem Kosmos.
13.
Ein Punkt ist die Lebensdauer der Menschen, ihr Wesen in stetem Fluss, ihre Empfindung dunkel, das ganze Gewebe ihres Körpers der Fäulnis unterworfen, ihre Seele ein Kreisel, ihr Schicksal schwer zu bestimmen, ihr Ruf zweifelhaft: kurz, alles, was den Körper betrifft, ist ein Strom, was die Seele angeht, Traum und Dunst, das Leben ein Krieg und eine Wanderung in fremdem Land, der Nachruhm endlich Vergessenheit. Was kann nun dabei den Menschen sicher geleiten? Einzig und allein die Philosophie. Diese aber besteht darin, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, unentweiht und unverletzt zu bewahren, erhaben über Lust und Unlust, so dass er nichts ohne Zweck, noch mit Trug und Verstellung tue, mit seinen Bedürfnissen von fremdem Tun und Lassen unabhängig sei, überdies alle Begebenheiten und das ihm zugeteilte Los als von daher kommend aufnehme, woher er selbst gekommen ist, zu alledem aber mit gelassenem Sinn den Tod erwarte, der ja nichts anderes ist als eine Auflösung in die Urstoffe, woraus jedes lebende Wesen zusammengesetzt ist. Wenn aber für diese Urstoffe selbst nichts Schreckliches darin liegt, dass jeder von ihnen immerfort in einen andern umgewandelt wird, warum sollte man die Umwandlung und Auflösung aller zusammen mit furchtsamem Blick ansehen? Auch sie geschieht ja der Natur gemäß; was aber der Natur gemäß geschieht, ist kein Übel.
Drittes Buch
1.
Wir müssen nicht allein das bedenken, dass jeden Tag etwas an unserem Leben aufgezehrt wird und ein immer kleinerer Teil davon übrig bleibt, sondern auch das ist zu beherzigen, dass, wenn gleich jemand länger leben sollte, es doch ungewiss ist, ob auch seine Denkkraft zum Verständnis der Dinge und zu der Betrachtung, welche auf Einsicht in göttliche und menschliche Dinge abzweckt, für die Zukunft ungeschwächt ausreichen werde. Denn wenn der Mensch einmal anfängt, geistig abgestumpft zu werden, so mag zwar das Vermögen, zu atmen, zu verdauen, Einbildungen und Triebe zu haben und alles andere derart bei ihm noch nicht aufhören; die Fähigkeit dagegen, seine Kräfte selbsttätig zu gebrauchen, die Pflicht, jedesmal erschöpfend zu berechnen, die Erscheinungen genau zu zergliedern, über die Frage, ob er jetzt schon freiwillig aus dem Leben scheiden solle, und über andere dergleichen Dinge, welche einer wohl geübten Denkkraft gar sehr bedürfen, sich klar zu werden: diese Fähigkeit erlischt bei ihm vorher. Wir müssen uns also beeilen, nicht nur, weil wir dem Tode mit jedem Augenblicke näher kommen, sondern auch deswegen, weil das Vermögen, die Dinge zu verstehen und zu verfolgen, oft schon früher aufhört.
2.
Ebenso verdient der Umstand unsere Beachtung, dass auch Erscheinungen, welche sich Naturereignissen zufällig beigesellen, für uns etwas Reizendes und Anziehendes haben. So fallen uns die Risse und Spalten, welche sich hin und wieder am gebackenen Brot zeigen, obgleich sie der Absicht des Bäckers einigermaßen zuwider sind, doch in einem gewissen Grade angenehm auf und erregen in eigentümlicher Weise die Esslust. Ebenso ist’s bei den Feigen, die zur Zeit ihrer vollkommenen Reife aufbrechen, und bei den überzeitigen Oliven, wo gerade die Annäherung der Fäulnis der Frucht einen besonders lieblichen Beigeschmack verleiht. Die niederhängenden Ähren, die in Falten gelegte Stirnhaut des Löwen, der aus des Ebers Rachen triefende Schaum und viele andere Erscheinungen sind, an und für sich betrachtet, ohne allen Liebreiz, und doch, weil sie im Anschluss an Werke der Natur sich zeigen, tragen sie mit zu deren Schmuck bei und üben dadurch eine gewisse Anziehungskraft aus. Hat daher jemand Empfänglichkeit und ein tieferes Verständnis für alles, was im Weltganzen geschieht, so wird ihm auch unter solchen Nebenumständen kaum etwas begegnen, das sich ihm nicht auf gewisse Weise empfehlen sollte. Und so wird er auch den natürlichen Rachen wilder Tiere mit nicht geringerem Vergnügen betrachten, als wenn ihn Maler und Bildhauer in künstlerischer Nachbildung vorführen, und mit keuschem Auge die reife Schönheit bejahrterer Frauen und Männer nicht minder wohlgefällig als den Jugendreiz von Knaben ansehen können. Solcher Dinge nun gibt es viele,