Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France

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Gesammelte Erzählungen von Anatole France - Anatole France

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du bist wunderlich, Lucien! Ich habe niemals derartige sonderbare Einfälle. Ich lachte, weil ich mir unsern Freund Vincent vorstellte, wie er im Leben war. Weiter nichts, und das ist am Ende ganz natürlich. Ich traure dennoch in meinem Herzen um ihn, denn wir hatten keinen besseren Freund als ihn.«

      »Ja, Zoë, ich hatte ihn auch sehr lieb, und grade wie du möchte ich lachen wenn ich an ihn denke. Es ist seltsam, wie in diesem kleinen Körper ein so starker militärischer Geist steckte und daß er trotz seines Puppengesichtes eine so heldenhafte Seele hatte. Sein Leben verlief in der Vorstadt einer kleinen Provinzstadt sehr ruhig. Er war Bürstenfabrikant, aber das füllte sein Herz nicht aus.

      »Er war auffallend klein und doch außerordentlich martialisch, ein eifriger Bürger und begeisterter Kolonist,« sagte Herr Bergeret.

      »Ja, und ein guter, rechtschaffener Mensch«, pflichtete Zoë bei.

      »Er hatte den Krieg von 1870 mitgemacht, Zoë. Damals war er 20 Jahre alt, und ich war eben zwölf geworden. An einem Tage jenes schrecklichen Jahres kam er mit lautem Säbelgerassel in unser friedliches Haus, um uns Lebewohl zu sagen. Er trug ein Schrecken erregendes Kostüm eines Freischützen. Aus dem scharlachroten Gürtel guckten die Griffe von zwei alten Pistolen, und wie man manchmal noch in tragischen Stunden lachen muß, hatte die Laune irgend eines obskuren Waffenhändlers ihn in sorgloser Unwissenheit an einen mächtigen Kavalleriesäbel gehängt.

      »Bitte, Zoë, mache mir keinen Vorwurf aus dieser Redeblüte, sie stammt nicht von mir, du findest sie in einem Brief von Cicero:

      ›Wer,‹ sagt der Redner, ›hat meinen Schwiegersohn an diesen Säbel gehängt? ‹

      »Was mich am meisten in Erstaunen setzte an der Equipierung unseres Freundes Vincent, das war dieser riesige Säbel. In meiner kindlichen Phantasie verband ich damit die Hoffnung auf Sieg. Du, Zoë, schienst den Stiefeln mehr Beachtung zu schenken, denn du sagtest ›sieh da, der gestiefelte Kater!‹

      »Hab ich das gesagt? der arme Vincent!«

      »Mache dir keinen Vorwurf daraus, Zoë, Madame d’Abrantès erzählt in ihren Memoiren, daß ein kleines Mädchen auch einmal zu dem jungen mageren Bonaparte ›gestiefelter Kater‹ gesagt habe, als sie ihn eines Tages in seinem lächerlichen Aufzuge als General der Republik sah. Bonaparte hat es ihr nie verziehen. Unser Freund war großzügiger und nahm es nicht weiter übel.

      »Emil Vincent kam mit seiner Kompagnie zu einem General, der die Freischützen nicht leiden konnte und der zu ihm sagte:

      ›Es genügt nicht, sich in Maskerade zu werfen, man muß sich auch schlagen.‹

      »Unser Freund Vincent nahm diese höhnische Bemerkung ruhig hin. Er benahm sich bewunderungswürdig während des ganzen Feldzuges. Eines Tages sah man, wie er auf die feindlichen Vorposten losging, mit der Ruhe eines Helden, kurzsichtig wie er war konnte er kaum drei Schritte weit sehen, aber nichts hätte ihn bewegen können umzukehren.

      »Während der dreißig Jahre, die er noch lebte, dachte er während er seine Bürsten fabrizierte unablässig an diese Monate im Felde. Er las alle militärischen Zeitungen, präsidierte bei den Zusammenkünften mit seinen früheren Waffenbrüdern und war bei allen Denkmalsenthüllungen, die den Kriegern von 1870 und 71 galten, dabei. Er hielt dann stammende patriotische Reden, und hierbei muß ich an eine Szene menschlicher Komödie rühren, deren trübselige Possenhaftigkeit man später einmal begreifen wird. Nämlich im Laufe der Dreyfuß-Affäre hatte Vincent gesagt, daß Esterhazy ein Schuft und ein Verräter sei. Er sagte es, weil er es wußte und weil er viel zu ehrlich war, um aus der Wahrheit ein Hehl zu machen. Aber von diesem Tage an betrachtete man ihn als einen Feind des Vaterlandes und der Armee.

      »Er wurde als Verräter und Ausländer behandelt. Der Kummer darüber beschleunigte sein Herzleiden. Als ich ihn das letztemal sah, sprach er von Strategie und Taktik. Das war sein Lieblingsthema. Obgleich er in dem Feldzug von 1870-71 die größte Unordnung und Verwirrung erlebt hatte, war er doch davon überzeugt, daß die Kriegskunst erhaben sei über alle andern Künste. Und ich fürchte, ich habe ihn erzürnt mit meiner Anschauung, daß es eigentlich, richtig genommen, gar keine Kriegskunst gibt, daß man vielmehr während des Krieges alle Friedenskünste anwendet: die Bäckerkunst, die Hufschmiedekunst, die Polizei, die Chemie usw.«

      »Warum sagst du auch so etwas, Lucien?«

      »Aus Überzeugung, Zoë. Was man Strategie nennt, ist im Grunde die Kunst, welche die Agentur Cook auszuüben pflegt. Sie besteht in der Hauptsache darin, über die Flüsse vermittels der Brücken zu gelangen und über die Berge vermittels der Gipfel. Was die Regeln der Taktik anbelangt, so sind sie gefährlich. Die großen Heerführer richten sich nicht danach. Ohne es einzugestehen, überlassen sie vieles dem Zufall. Ihre Kunst besteht darin, Vorurteile zu schaffen, die ihnen günstig sein können.

      »Es ist ein leichtes zu siegen, wenn man für unbesiegbar gehalten wird.

      »Nur auf der Karte hat eine Schlacht ein geregeltes Aussehen und wird von einem höheren Willen beeinflußt.«

      »Der arme Vincent,« seufzte Zoë. Er vergötterte das Militär. Und ich bin überzeugt wie du, daß er sehr darunter gelitten hat, als die Leute von der Armee ihn als Feind betrachteten. Die Generalin Cartier hat ihn sehr schroff behandelt, obwohl sie wußte, daß er sehr freigiebig war bei militärischen Liebeswerken. Aber als sie hörte, daß er Esterhazy einen Schurken genannt hatte, brach sie alle Beziehungen mit ihm ab, und zwar schonungslos. Als er sie nämlich besuchte, trat sie ganz nahe an die Tür des Zimmers, in welchem er wartete, und rief: ›Sagen Sie, ich wäre nicht zu Hause!‹ Und dabei ist sie eigentlich keine schlechte Frau.«

      »Nein, sicher nicht,« erwiderte Herr Bergeret. Sie handelte aus einem Gefühl heiliger Einfalt, von dem es zu früherer Zeit noch ganz andere bewunderungswürdige Beispiele gab.

      Wir besitzen nur noch höchst mittelmäßige Tugenden. Und der arme Emil ist tatsächlich aus Kummer gestorben.

      Das doppelte Gesicht

       Inhaltsverzeichnis

      (Adrienne Buquet)

      Adrienne Buquet

      Es war nach dem Abendessen im Wirtshaus.

      »Ich gebe zu,« sagte Laboullé zu mir, »alle diese Tatsachen, die sich auf einen noch sehr unklar bestimmten Zustand unseres Organismus beziehen, – Doppeltes Gesicht, Fernsuggestion, Ahnungen, – sind meistens nicht genügend einwandsfrei festgestellt, um den Erfordernissen wissenschaftlicher Kritik standhalten zu können. Sie beruhen fast immer auf Zeugenschaften, die, obwohl glaubwürdig, doch Ungewißheit über die Art des Phänomens bestehen lassen. Diese Tatsachen sind noch nicht genügend begründet, darin stimme ich zu. Aber die Möglichkeit solcher Dinge steht bei mir außer Zweifel, seitdem ich Gelegenheit hatte, einen Fall zu beobachten. Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir, alle Grundbedingungen genauester Beobachtung vereinigen zu können. Glaub mir, ich bin ganz methodisch vorgegangen und habe alle Sorgfalt aufgewandt, um jeden Grund zum Zweifel auszuschließen.«

      Während er dies sehr nachdrücklich sagte, schlug der junge Doktor Laboullé sich mit beiden Händen auf seine hohle Brust, die mit Broschüren überpolstert war, und näherte mir über den Tisch seinen scharfen Kahlkopf.

      »Ja,

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