Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde. Оскар Уайльд
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»Nein«, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit des Lebens.
»Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der Bursche und ballte die Faust.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. Er hatte wirklich hohe Verbindungen.«
Ein Fluch kam über seine Lippen. »Es bekümmert mich nicht meinetwegen,« rief er, »aber laß Sibyl nicht... Ist es ein Gentleman oder nicht, der sie liebt, oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, vermute ich.«
Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Demütigung über die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.«
Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, beugte sich über sie und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem Vater verletzt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort. Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid zufügt, dann bringe ich schon heraus, wer es ist, spüre ihn auf und schlage ihn tot wie einen Hund. Das schwöre ich dir!«
Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die leidenschaftlichen Handbewegungen, die ihn begleiteten, die tollen, melodramatischen Worte machten der alten Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal seit vielen Monaten bewunderte sie förmlich ihren Sohn. Sie hätte die Szene gern auf derselben Gefühlshöhe fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer mußten heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht des Mietshauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde der Preis abgehandelt. So wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verzettelt. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie am Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch die Luft wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr zumute, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie öde künftig ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind zu behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die Empfindung, daß sie alle eines Tages darüber lachen würden.
SECHSTES KAPITEL
»Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?« sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Separatzimmer im Bristol trat, wo für drei Personen zum Essen gedeckt war.
»Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er Hut und Rock dem dienernden Kellner gab. »Was ist es? Nichts über Politik, hoffe ich. Die interessiert mich nicht. Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen Menschen, den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen zur Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.«
»Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn, während er sprach.
Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. »Dorian verlobt!« rief er. »Unmöglich!«
»Es ist wahrhaftig wahr.«
»Mit wem?«
»Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.«
»Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.«
»Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit verrückte Sachen zu begehen, lieber Basil.«
»Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann, Harry.«
»Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry nachlässig. »Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu sein, aber ich kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.«
»Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen. Es wäre sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten würde.«
»Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so brauchst du ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er's gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen Dummes tut, tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.«
»Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte Dorian nicht an irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt sehen, das ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt.«
»Oh, sie ist mehr als gut – sie ist schön«, sagte Lord Henry und nippte an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. »Dorian sagt, sie ist schön, und in Dingen dieser Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat unter anderem diesen glänzenden Erfolg gezeigt. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge seine Abmachung nicht vergißt.«
»Ist das dein Ernst?«
»Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, wenn ich je im Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.«
»Aber billigst du es denn, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen biß. »Du kannst es doch ganz unmöglich billigen. Es ist eine törichte Verblendung.«
»Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas bringt einen in eine ganz verrückte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt worden, um unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und ich mische mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die sich diese Persönlichkeit aussucht, für mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten. Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde er nicht weniger interessant sein. Du weißt, ich bin kein Eheapostel. Der eigentliche Nachteil der Ehe ist, daß man selbstlos wird. Und selbstlose Menschen sind farblos. Sie werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren Egoismus und erweitern ihn durch eine Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich gezwungen, mehr als ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner organisiert, und feiner organisiert zu werden, scheint mir der Zweck des menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung ihren Wert, und was man auch gegen die Ehe sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate hindurch leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich eine andere anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu beobachten.«
»Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; und das weißt du auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.«
Lord Henry lachte. »Der Grund, weshalb wir alle so gut von anderen denken, ist der, daß wir alle Angst vor uns selber haben. Die Grundlage des Optimismus ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, weil wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben,