Die bedeutendsten Maler der Neuen Zeit. Norbert Wolf
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1 Aus der unüberschaubaren Vielzahl von Publikationen greife ich aus neuerer Zeit folgende deutschsprachige Titel heraus: Feghelm, Dagmar: Ich, Goya. München-Berlin-London-New York 2004; Held, Jutta: Goya. Reinbek bei Hamburg 1980; Ausstellungskatalog »Francisco de Goya. 1746–1828. Prophet der Moderne.« Hrsg. von Wilfried Seipel und Peter-Klaus Schuster sowie Manuela B. Mena Marqués. Kunsthistorisches Museum Wien, Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin 2005–2006. Köln 2005
JACQUES-LOUIS DAVID
(* PARIS 30. 8. 1748, † BRÜSSEL 29. 12. 1825)
Längst hat sich der Begriff »Avantgarde« als Synonym für jene Prozesse durchgesetzt, die den Status quo der Kunst radikal aufbrechen. Zumeist wird im wissenschaftlichen Diskurs Avantgarde als eine Haltung definiert, die eine Autonomie der Kunst anstrebt. Anders der Literaturwissenschaftler Peter Bürger bei seiner Analyse des Futurismus, Dadaismus und des frühen Surrealismus. Er reserviert den Begriff »Avantgarde« für eine Einstellung, die der Autonomie und der darin enthaltenen gesellschaftlichen Folgenlosigkeit der Kunst entgegenwirken, die die Kunst in der Lebenspraxis aufheben will – mit dem Ziel einer ästhetisierten Lebenspraxis, die fortan die Unterscheidung zwischen Kunst und Leben überflüssig macht.2 Dann aber, so meine Folgerung, war bereits Jacques-Louis David ein Avantgardist!
Denn er betrieb – intensiver als wir das von der Renaissance her kennen, die in diesem Punkt allerdings schon tüchtig vorgearbeitet hat – die Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis, konkret: in der Politik, in der »Inszenierung« des Staates.
Während der Französischen Revolution wurde David Mitglied des Konvents, Mitglied der linken Fraktion, des Jakobiner-Clubs, des Wohlfahrts- und des Sicherheitsausschusses. Als hoher Funktionär und als längst gefeierter Künstler war es seine Aufgabe, Dekorationen und Embleme, ja ganze Festordnungen für die Massenfeiern zu konzipieren. Er rückte also zum Intendanten einer sich selbst zelebrierenden Politik auf. Die künstlerischen Ingredienzien besagter Massenaufzüge dienten dazu, den Alltag mit einer Kette ästhetisch »herausgehobener Momente« zu ritualisieren, mit einer Reihe auch »religiöser Ersatzphantome«. David war allgegenwärtig, um die Inszenierungs-Maschinerie zu programmieren und in Gang zu halten, er, der Dirigent der aufwendigen synthetisch-allegorischen Festveranstaltungen.
Dass David 1794 beinahe zum Opfer des von ihm verherrlichten Regimes geworden wäre, dass er sich Jahre später einer neuen Ära anpasste und als Hofmaler Napoleons gekonnt pompöse Historienbilder schuf – zusätzlich zu den von ihm seit jeher gepflegten antikisierend-mythologischen Sujets und zu den eindrucksvollen Porträts – sei hier lediglich am Rande angemerkt.
Die avantgardistische Durchdringung von Lebenspraxis und künstlerischen Strategien funktionierte bei David indes noch auf einer versteckteren Ebene:
1784 schilderte er mit dem monumentalen Schwur der Horatier (Paris, Musée du Louvre) einen altrömischen Sagenstoff, der in dem Zweikampf zwischen den drei Brüdern der römischen Familie der Horatier und den Brüdern der gegnerischen Familie der Curatier gipfelte.
Die Unbedingtheit des ethischen Anspruchs – Selbstaufopferung des »Staatsbürgers« bis zum Tod – findet in der starren Geometrie des Aufbaus ihre Entsprechung: Horizontale und vertikale Kompositionslinien konstituieren ein Gitternetz für den Figurenfries. Jedes schmückende Beiwerk entfällt, die Farbigkeit ist auf unsinnliche Kühle reduziert. Die orthogonale Verstrebung, die als unverrückbare Ordnung das Gegenständliche trägt, ist weit mehr als nur ein Hilfsmittel für den Bildaufbau. Das geometrische Gerüst ist vielmehr selbst eine Art Bildgegenstand, ja das geheime Objekt der Darstellung (sozusagen eine Vorahnung der geometrischen Abstraktion im 20. Jahrhundert). Das Gesetz selbst (verkörpert in der »abstrakten« Unausweichlichkeit der Bildgeometrie) ist der Inhalt, zu dem verpflichtet wird.
Diesen radikalen Klassizismus – Äquivalent für Selbstdisziplin, »Männlichkeit«, Römertugend – konnte David nun in zeitgenössischer Lebenspraxis aufheben! Nämlich in den militärischen Ziel- und Idealvorstellungen, die in Frankreich bereits seit den letzten vorrevolutionären Dezennien virulent waren und von den Ideologen der Revolution dann begeistert aufgegriffen wurden. Der Spezialfall soldatischen Gehorsams rückte bei Theoretikern der Kriegskunst zu einem Hauptanliegen auf. Es waren die Militärs, die vom historischen römischen Tugendmodell profitieren wollten: antike Tugend als Vorbild für französische Armeen! Die Historienmalerei sollte maßgeblich an der Gestaltung solcher, über die Sinne an Herz und Willenskraft appellierender, Arrangements mitwirken.3 Da scheint es dann schon symbolträchtig, dass der Name »Avantgarde« ursprünglich die militärische Vorhut bezeichnete, die unbekanntes Gelände erkundet. In der Zeit der Französischen Revolution hat man den Terminus auf die aktuellen Künstler übertragen!
Indes, hätte diese Art von Avantgardismus ausgereicht, David zum bedeutendsten Maler des Klassizismus und zu einem der ganz Großen in der Kunstgeschichte zu adeln?
Werfen wir einen Blick auf sein berühmtestes Gemälde, Der ermordete Marat von 1793 (Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts).4 Der in der Badewanne erstochene Revolutionär ist erneut in ein Bildgerüst eingepasst, das das »totalitäre« Ethos des rechten Winkels demonstriert. Aus der Rhetorik der Davidschen Bild-Reportage heraus entsteht das Epitaph des »Staatsmärtyrers« und wird zur Ikone der Revolution stilisiert. Im Gleichklang mit diesem ideologischen Faktor (das Bild wurde im Nationalkonvent, den Abgeordneten gegenüber, gehängt) gelang es David, dem pseudo-sakralisierten »Helden« die Würde eines noch den gegenwärtigen Betrachter tief berührenden Menschenbildes mitzuteilen: Die von der Farbe lediglich diffus strukturierte dunkle Leere, die Marat oben und hinten, in weiten Partien des Bildes, umgibt – man darf sie als eine Herausgehobenheit aus konkreten zeitlichen und örtlichen Daseinsbedingungen interpretieren, man kann sie als das optische Äquivalent für die Einsamkeit des Todes deuten. Propagandakunst ist genial mit Existentialismus versöhnt!
Der Tod des Marat ist das größte Kunstwerk geblieben, das der moderne Parlamentarismus hervorbrachte, und er ist zudem ein Chef-d’œuvre der europäischen Kunstgeschichte.
2 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974, S. 69, 78 und passim
3 Stolpe, Elmar: Klassizismus und Krieg. Über den Historienmaler Jacques-Louis David. Frankfurt am Main-New York 1985
4 Traeger, Jörg: Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes. München 1986 (manche Thesen sind nicht unumstritten, dennoch stellt das Buch eine unverzichtbare Monografie zu diesem Bild dar).
CASPAR DAVID FRIEDRICH
(* GREIFSWALD 5. 9. 1774, † DRESDEN 7. 5. 1840)
Der norwegische Maler Johan Christian Clausen Dahl, der sich in Dresden mit Friedrich anfreundete, beklagte, dass die meisten Zeitgenossen lediglich konstruierte Ideen ohne jegliche Naturwahrheit in Friedrichs Landschaften sahen. »Friedrich fesselt uns an einen abstracten Gedanken […]«, bedauerte wenig später der Biedermeier-Maler Adrian Ludwig