Gesammelte Werke. Aristoteles
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Dem mittleren Habitus in dieser Beziehung ist auch die Wohlanständigkeit102 eigentümlich. Es verrät den anständigen Menschen, nur solches zu sagen und anzuhören, was sich für einen gesitteten und vornehmen Mann paßt. Gewisse Scherze nämlich geziemt es sich wohl für einen solchen Mann zu machen und anzuhören: es ist ein Unterschied zwischen dem Scherz vornehmer und roher, dem Scherz gebildeter und ungebildeter Personen. Man kann das auch an den Lustspielen der Alten und der Neueren sehen : jenen lag das Komische in der Zotenreißerei, diesen liegt es vielmehr in der Doppelsinnigkeit, was beides in Bezug auf Schicklichkeit nicht wenig verschieden ist103.
Wie ist nun der, der auf die rechte Weise spottet, zu bestimmen? Etwa dahin, daß er sage was für einen humanen Mann paßt, oder dahin, daß er den Hörer nicht kränke oder ihn gar ergötze? Oder sollte auch das zu unbestimmt sein? Ist doch dem dies, dem jenes unangenehm und angenehm, wonach sich dann auch die Aufnahme richtet, die das Gehörte findet. So wird denn gelten müssen, daß unser Mann sich nur solches zu sagen erlaubt, was er selbst gern mit anhört. Er wird sich also nicht alles erlauben. Der Spott ist eine Art Schmähung, und die Gesetzgeber verbieten gewisse Schmähungen; vielleicht sollten sie auch gewisse Spöttereien verbieten. Der freie und gebildete Mann wird sich nun von selbst so verhalten, indem er sich selbst gleichsam Gesetz ist.
So also ist der Mann der Mitte beschaffen, mag man ihn nun wohlanständig oder artig nennen.
Der Possenreißer hat eine Schwäche fürs Lächerliche. Er schont weder sich noch andere, wenn er nur die Leute zum Lachen bringen kann, und sagt Dinge, dergleichen ein feiner (1128b) Mann nicht sagen, zum Teil nicht einmal anhören würde.
Der steife und griesgrämige Mann ist für solchen Verkehr unbrauchbar. Zur Unterhaltung trägt er nichts bei und nimmt Anstoß an allem. Und doch scheint Erholung und heiterer Scherz für das Leben notwendig.
So hätten wir denn von dreien Mitten im geselligen Leben gehandelt, die es sämtlich mit dem Verkehr in bestimmten Reden und Handlungen zu tun haben. Ihr Unterschied liegt darin, daß es sich bei der einen um die Wahrheit, bei den beiden anderen um das Lustbringende handelt. Und von denen, die es mit der Lust zu tun haben, bewegt sich die eine im Scherz, die andere in dem Verkehr des sonstigen Lebens.
Fünfzehntes Kapitel.
Von der Scham kann man nicht wohl wie von einer Tugend sprechen, da sie mehr von einem Affekt als von einem Habitus an sich hat. Man bestimmt sie als eine Furcht vor Schande, und sie betätigt sich ähnlich wie die Furcht vor Schrecklichem: wer sich schämt, errötet; wer den Tod fürchtet, erblaßt. So scheinen denn beide in gewissem Sinne etwas Körperliches zu sein, was wohl mehr einen Affekt als einen Habitus verrät.
Dieser Affekt paßt nicht für jedes Alter, sondern blos für das jugendliche. Wir nehmen an, daß der Mensch in diesem Alter diese Eigenschaft haben müsse, weil er unter dem Einflüsse der Leidenschaft steht und viele Fehler begehen würde, vor denen er durch das Schamgefühl behütet bleibt. Und wenn junge Leute Scheu und Scham zeigen, loben wir sie, bei einem alten Mann aber wird niemand die Verschämtheit loben, weil wir meinen, daß er nichts tun dürfe, worüber man sich schämen muß. Den tugendhaften Mann trifft es nicht, sich zu schämen, da man sich nur über Verkehrtheiten zu schämen braucht, die eben nicht vorkommen dürfen.
Wenn manches wirklich, manches nur nach menschlicher Auffassung schimpflich ist, so verschlägt das nichts. Man soll keines von beiden tun, und so wird man sich gar nicht zu schämen haben. Es verrät einen schlechten Mann, wenn man fähig ist, etwas, was irgend wie schimpflich ist, zu tun.
Ist man so gesinnt, daß man nach einer schlechten Handlung sich schämen würde, und hält sich deshalb für rechtschaffen, so ist das ungereimt. Denn man schämt sich über freiwillige Handlungen, der rechtschaffene Mann wird aber nie mit freiem Willen böses tun. So müßte denn die Scham bedingungsweise eine sittliche Eigenschaft sein, insofern man sich nämlich in dem Falle schämen würde, daß man wirklich schlechtes täte. Die Tugenden ertragen aber keine Bedingungen.
Wenn es eine Schlechtigkeit ist, unverschämt zu sein und ohne Scham und Scheu Schimpfliches zu tun, so ist es darum noch keine Tugend, bei solchen Handlungen Scham zu empfinden104.
Auch die Enthaltsamkeit ist keine reine Tugend, sondern eine Eigenschaft von gemischter Art. Das wollen wir weiter unten nachweisen. Jetzt aber wollen wir von der Gerechtigkeit handeln105.
Fünftes Buch.
Erstes Kapitel.
(1129a) In Bezug auf die Gerechtigkeit106 und die Ungerechtigkeit ist zu untersuchen, mit was für Handlungen sie es zu tun hat, was für eine Mitte die Gerechtigkeit ist, und wovon das Gerechte die Mitte ist107. Bei dieser Untersuchung wollen wir dasselbe Verfahren wie bei den vorhergehenden beobachten108.
Wir sehen, daß jedermann mit dem Worte Gerechtigkeit einen Habitus bezeichnen will, vermöge dessen man fähig und geneigt ist, gerecht zu handeln, und vermöge dessen man gerecht handelt und das Gerechte will, und ebenso mit dem Worte Ungerechtigkeit einen Habitus, vermöge dessen man ungerecht handelt und das Ungerechte will. Dieses gelte denn auch uns als erste und allgemeinste Voraussetzung. Denn mit einem Habitus hat es eine andere Bewandtnis als mit den Wissenschaften und Vermögen. Ein und dasselbe Vermögen und ein und dasselbe Wissen umfaßt die Gegensätze109; ein Habitus aber, der es mit dem einen Glied des Gegensatzes zu tun hat, hat es nicht auch mit dem anderen zu tun. Von der Gesundheit z. B. kann nicht Entgegengesetztes ausgehen, sondern nur Gesundes. Wir sprechen von gesundem Gange, wenn Einer so geht, wie es ein gesunder Mensch tut. Demgemäß wird ein Habitus bald aus dem entgegengesetzten Habitus, bald aus seinem Subjekt erkannt. Weiß man was guter Stand der Gesundheit ist, so weiß man auch was schlechter Stand der Gesundheit