Gesammelte Werke. Aristoteles
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So leuchtet denn ein, daß es außer der allgemeinen Gerechtigkeit noch eine andere, partikuläre gibt, die ihr darum synonym ist, weil in ihrer Begriffsbestimmung dieselbe (1130b) Gattung wiederkehrt. Beide bedeuten nämlich etwas, was auf andere Bezug hat, nur bezieht sich die eine auf Ehre oder Eigentum oder Gesundheit oder in welchen Ausdruck wir das alles zusammenfassen mögen, und entspringt aus der unordentlichen Freude am Gewinn, während sich die andere auf alles bezieht, womit der Tugendhafte es zu tun hat.
Fünftes Kapitel.
Daß es also mehrere Gerechtigkeiten gibt und noch eine Gerechtigkeit neben der ganzen Tugend, ist klar. Bestimmen wir also, was und welcher Art sie ist.
Das Ungerechte zerfällt in das Ungesetzliche und das der Gleichheit Widerstreitende119, das Gerechte in das Gesetzliche und das der Gleichheit Entsprechende. Dem Ungesetzlichen entspricht nun diejenige Ungerechtigkeit, von der vorhin die Rede war. Da aber das der Gleichheit Zuwiderlaufende und das Ungesetzliche [Lesart nach Susemihl] nicht dasselbe, sondern verschieden sind wie Teil und Ganzes – denn alles, was wider die Gleichheit verstößt, ist ungesetzlich, aber nicht alles Ungesetzliche streitet mit der Gleichheit, grade wie auch alles Zuviel die Gleichheit verletzt, aber nicht alles, was die Gleichheit verletzt, auch ein Zuviel ist [Lesart abweichend von Bekker; vgl. dort die Varianten] –, so folgt, daß auch das Ungerechte und die Ungerechtigkeit hierin nicht dasselbe, sondern verschieden sind. Denn jene Ungerechtigkeit ist ein Teil der ganzen Ungerechtigkeit, und ebenso ist die Gerechtigkeit, nach der wir gegenwärtig fragen, ein Teil der ganzen Gerechtigkeit. Mithin müssen wir uns auch mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und mit Recht und Unrecht im engeren Sinne beschäftigen. Jene Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit also, die sich auf den ganzen Umfang der Tugend bezieht und die die Anwendung der ganzen Tugend, beziehungsweise des ganzen Lasters, auf unser Verhältnis zu anderen Menschen ist, möge als erledigt gelten. Ebenso ist leicht zu ersehen, wie das diesen entsprechende Recht und Unrecht zu bestimmen ist. Der größte Teil der Gesetzesvorschriften nämlich betrifft Handlungen der ganzen Tugend. Denn das Gesetz gebietet, im Leben jede Tugend zu üben und verbietet, irgend welchem Laster Raum zu geben. Das Mittel aber diese ganze Tugend zu verwirklichen sind jene gesetzlichen Bestimmungen, die die Erziehung für das Gemeinwesen regeln. Was freilich die Einzelerziehung betrifft, die da zum tugendhaften Manne schlechthin bildet, so ist die Frage, ob sie zur Staatslehre oder zu einer anderen Disziplin gehört, weiter unten zu erledigen. Denn vielleicht ist es nicht dasselbe, ein guter Mensch und ein guter Bürger eines beliebigen Staates zu sein120.
Von der partikulären Gerechtigkeit aber und dem ihr entsprechenden Rechte ist eine Art die, die sich bezieht auf die Zuerteilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern, die unter die Staatsangehörigen zur Verteilung gelangen können – denn hier kann der eine ungleich viel und gleich viel erhalten wie der andere –; eine andere (1131a) ist die, die den Verkehr der Einzelnen unter einander regelt. Die letztere hat zwei Teile. Es gibt nämlich einen freiwilligen Verkehr und einen unfreiwilligen. Zum freiwilligen Verkehre gehören z. B. Kauf, Verkauf, Darlehen, Bürgschaft, Nießbrauch, Hinterlegung, Miete. Hier spricht man von freiwilligem Verkehr, weil das Prinzip der genannten Verträge beiderseits der freie Wille ist. Zu dem unfreiwilligen Verkehr gehören teils heimliche Handlungen, wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Sklavenverführung, Meuchelmord, falsches Zeugnis, teils gewaltsame, wie Mißhandlung, Freiheitsberaubung, Todtschlag, Raub, Verstümmelung, Scheltreden, Herabwürdigung.
Sechstes Kapitel.
Da aber der Ungerechte wie das Unrecht die Gleichheit verletzen, so gibt es offenbar auch ein Mittleres zwischen dem Ungleichen. Es ist das Gleiche. Denn bei jeder Handlung, bei der es ein Mehr und ein Weniger gibt, gibt es auch ein Gleiches. Ist demnach das Unrecht ungleich, so ist das Recht gleich, wie übrigens auch jedem ohne Beweis einleuchtet. Da aber das Gleiche ein Mittleres ist, so ist also auch das Recht ein Mittleres.
Gleiches kann sich in nicht weniger Dingen finden als in zweien. Nun muß das Recht ein Mittleres, Gleiches und Relatives [Die Klammern um και πρός τι 1131a 16 lassen wir mit Sus. weg.] sein, das heißt eine Beziehung auf bestimmte Personen haben. Also muß es als ein Mittleres die Mitte zwischen bestimmten Momenten, dem Mehr und dem Weniger, sein; als ein Gleiches muß es ein Gleiches von zweien Dingen, und als Recht muß es ein solches für gewisse Personen sein. Somit fordert das Recht mindestens eine Vierheit. Denn zwei sind der Personen, für die es ein Recht gibt, und zwei der Sachen, in denen ihnen ihr Recht wird. Und es muß dieselbe Gleichheit bei den Personen, denen ein Recht zusteht, vorhanden sein, wie bei den Sachen, worin es ihnen zusteht: wie die Sachen, so müssen auch die Personen sich verhalten. Sind sie nämlich einander nicht gleich, so dürfen sie nicht gleiches erhalten. Vielmehr kommen Zank und Streit eben daher, daß entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen und genießen. Das ergibt sich auch aus dem Moment der Würdigkeit. Denn darin, daß eine gewisse Würdigkeit das Richtmaß der distributiven Gerechtigkeit sein müsse, stimmt man allgemein überein, nur versteht nicht jedermann unter Würdigkeit dasselbe, sondern die Demokraten erblicken sie in der Freiheit, die oligarchisch Gesinnten in Besitz oder Geburtsadel, die Aristokraten in der Tüchtigkeit121.
Das Recht ist demnach etwas Proportionales. Proportionalität findet sich nämlich nicht blos bei der aus Einheiten bestehenden Zahl, sondern auch bei der Zahl überhaupt122. Proportionalität ist Gleichheit der Verhältnisse und verlangt mindestens eine Vierheit, worin sie sich finde. Daß die diskrete Proportionalität sich in mindestens vier Gliedern finden muß, ist klar; aber es gilt ebenso von der kontinuierlichen. (1131b) In ihr wird eins wie zwei verwandt und zweimal gesetzt, z. B. in der Proportion: wie die Linie a zu b, so verhält sich die Linie b zu c. Hier wird b zweimal genannt, und so bekommt man, wenn man b doppelt zählt, vier Glieder123.
So setzt also auch das Recht mindestens vier Glieder voraus, unter denen dasselbe Verhältnis besteht. Denn die Personen sind nach demselben Verhältnis unterschieden wie die Sachen. Es verhalte sich also wie Glied a zu b, so Glied c zu d, und also auch umgekehrt, wie Glied a zu c, so Glied b zu d. So wird sich denn auch in derselben Weise das Ganze zum Ganzen verhalten, und das ist die Verbindung, die die Zuerteilung vornimmt, und wenn sie die Personen und Sachen so zusammenstellt, so geschieht die Verbindung in gerechter Weise124.
Siebentes Kapitel.
Mithin liegt darin, daß a mit c und b mit d verbunden wird, das Gerechte der Verteilung, und dieses Gerechte ist das Mittlere zwischen dem, was der Proportionalität zuwiderläuft. Denn das Proportionale ist die Mitte, und das Gerechte ist das Proportionale. Eine solche Proportion nennen die Mathematiker eine geometrische. Denn in der