Gesammelte Werke. Aristoteles
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Daher halten wir einen Perikles und seines Gleichen für klug, weil sie nämlich für das, was ihnen und anderen gut ist, einen richtigen Blick haben, und schreiben diese Tugend den Hausvätern und Staatslenkern zu; und daher kommt es auch, daß wir (im Griechischen) der Sophrosyne, der Mäßigkeit, diesen ihren Namen gegeben haben als einer Eigenschaft, die da eine Bewahrerin der Klugheit ist150. Sie bewahrt nämlich das zur Klugheit erforderliche Urteil. Denn nicht jedes Urteilen wird durch Lust und Unlust verdorben und verkehrt, nicht das Urteil z. B. über die Frage, ob das Dreieck eine Winkelsumme hat, die zwei rechten Winkeln gleich ist, oder nicht, sondern die Urteile über das, was man tun soll151. Denn die Prinzipien der Handlungen liegen in ihren Zwecken. Ist man aber einmal durch Lust oder Unlust bestochen, so verbirgt sich einem sofort das rechte Prinzip, und man vergißt, daß man seinetwegen und um seinetwillen alles wählen und tun soll. Denn es ist der Schlechtigkeit eigen, das Prinzip zu verderben. – So folgt denn mit Notwendigkeit, daß die Klugheit ein untrüglicher, vernünftiger Habitus des Handelns ist in Dingen, die die menschlichen Güter betreffen.
Aber wenn sich die Kunst die Tugend äußerlich zugesellen kann, so läßt die Klugheit solches durchaus nicht zu152; und in der Kunst ist der freiwillig Fehlende vorzüglicher, bei der Klugheit aber wie bei den sittlichen Tugenden ist er schlimmer153. Und so erhellt denn, daß sie eine Tugend ist und keine Kunst. Da es aber zwei Teile der vernunftbegabten Seite der Seele gibt, so wird die Klugheit dem einen derselben154, dessen Funktion das Schließen oder Meinen ist, zu überweisen sein. Aber sicher ist sie auch nicht ausschließlich Vernunft-Habitus, wofür ein Zeichen darin vorliegt, daß ein solcher Habitus durch Vergessenheit schwinden kann, die Klugheit aber nicht155.
Sechstes Kapitel.
Da die Wissenschaft Erfassung und Beurteilung des Allgemeinen und Notwendigen ist, und es Prinzipien oder oberste und letzte Gründe jedes Beweisbaren und jedes Wissens gibt – denn das Wissen heischt Gründe –, so wird unmittelbar mit dem Prinzip des Gewußten selbst keine Wissenschaft zu tun haben, und ebenso keine Kunst und Klugheit. Denn das Gewußte ist demonstrierbar, und Kunst und Klugheit bewegen sich um solches, was sich (1141a) anders verhalten kann. Aber auch die Weisheit hat an den Prinzipien nicht ihr Objekt. Denn dem Weisen ist es eigen, für manches einen Beweis, eine Demonstration, zu haben. Wenn es nun viererlei ist, wodurch wir das Wahre treffen und nie getauscht werden, sei es im Bereiche dessen, was sich nicht anders, oder auch dessen, was sich anders verhalten kann: Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Verstand, und wenn hier von den dreien – ich meine die Klugheit, Wissenschaft und Weisheit – keine auf die Prinzipien gehen kann, so bleibt allein übrig, daß dieses dem Intellekt, dem Verstande, zukommt156.
Siebentes Kapitel.
Die Weisheit aber schreiben wir in den Künsten denjenigen zu, die es in denselben zur höchsten Vollendung gebracht haben, indem wir z. B. den Phidias einen weisen Meister in Stein und den Polykleitos einen weisen Bildhauer nennen, und da wollen wir mit dem Worte Weisheit nichts anderes sagen, als daß sie Kunst im vollkommenen Sinne ist. Wir halten aber Einige für ganz und gar, nicht blos in einem Stück, für weise, sollten sie auch in anderer Hinsicht nicht weise sein, nach welcher Bedeutung Homer im Margites sagt:
»Ihn nun hatten die Götter zum Gräber nicht, auch nicht zum Pflüger,
Noch sonst weise gemacht«157.
Somit ist offenbar, daß die Weisheit die vollkommenste Wissenschaft ist. Mithin muß der Weise nicht blos die Folgerungen aus den Prinzipien wissen, sondern auch bezüglich der Prinzipien die Wahrheit erkennen. Demnach wäre also die Weisheit Verstand und Wissenschaft, eine Wissenschaft, die, gleichsam als Haupt über die anderen gestellt, die allerwürdigsten Objekte umfaßt158.
Denn wenn man meint, die Staatskunst oder die Klugheit sei die beste Wissenschaft, so ist dies ungereimt, wofern der Mensch nicht das Beste von allem in der Welt ist159. Wenn nun ein anderes für die Menschen und ein anderes z. B. für die Fische gesund und gut, das Weiße dagegen und das Gerade immer dasselbe ist, so wird auch wohl die Weisheit von allen als dasselbe bezeichnet werden, die Klugheit aber je und je für etwas anderes. Denn wer in den Dingen, die ihm je vorkommen, das Zuträgliche [Zeile 25 το ευ mit Susemihl.] sieht, den nennt man klug, und dem vertraut man derartige Dinge an160. Darum nennt man auch manche Tiere klug, alle diejenigen nämlich, die im Bereich ihrer Daseinssphäre ein voraussehendes Vermögen bekunden. Man sieht aber auch, daß die Weisheit und die Staatskunst nicht dasselbe sein können. Denn wollte man die Erkenntnis dessen, was einem selbst nützlich ist161, Weisheit nennen, so ergäben sich viele Weisheiten. Denn es gibt nicht blos eine Wissenschaft für das, was allen lebenden Wesen gut ist, sondern für jede Art derselben eine andere, sonst müßte es auch für alle nur eine Heilkunst geben. Und hierbei verschlägt es nichts, daß der Mensch das vorzüglichste unter allen lebenden Wesen ist. Denn es gibt Dinge, die ihrer Natur (1141b) nach viel göttlicher sind als der Mensch, wie dieses am augenscheinlichsten bei den Himmelskörpern hervortritt162. Aus dem Gesagten sieht man also, daß die Weisheit ein Wissen und ein Verstehen derjenigen Dinge ist, die ihrer Natur nach am ehrwürdigsten sind.
Daher erklärt man einen Anaxagoras, einen Thales und ihresgleichen für Weise, aber nicht für klug, da man sieht, daß sie sich auf das, was ihnen Vorteil bringt, nicht verstehen, und man sagt ihnen nach, sie wüßten Ungewöhnliches, Wunderbares, Schweres, Übermenschliches, erklärt aber all dieses Wissen für unfruchtbar, weil sie nicht die irdischen Güter suchen163.
Achtes Kapitel.
Die Klugheit aber hat es mit den irdischen und menschlichen Dingen zu tun, mit Dingen, die Gegenstand der Überlegung sind. Bezeichnen wir es doch als den Hauptvorzug eines klugen Mannes, daß er sich seine Sache