Mami Staffel 2 – Familienroman. Gisela Reutling
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»Unsere Kinder haben keine Erfahrung im öffentlichen Leben«, hatte Dona Dolores warnend zu verstehen gegeben, »niemand bedauert das mehr als ich. Aber um zehn von ihnen auszuführen, braucht man mindestens drei Aufsichtspersonen, und so viele kann ich normalerweise nicht entbehren. Deshalb beschränken sich diese Ausgänge auf zwei- oder dreimal im Jahr.«
Kati, die einige Einwände und Gegenvorschläge auf der Zunge gehabt hatte, war froh, sie hinuntergeschluckt zu haben. Völlig betäubt vom Trubel, von der unübersichtlichen Menge und dem Geflacker der Lichterketten ließ sie sich vorwärts treiben dem langen Tisch zu, der unweit einer Imbißbude von Dona Dolores reserviert worden war.
Hier sollte es Cola für alle geben, hier sollten die Kinder entscheiden, welches Geschenk sie sich selbst kaufen wollten, hier sollte Kati ihnen das Geld dafür in die Händchen drücken.
Das Geld. Wo war das Geld?
Verzweifelt tastete Kati nach der Schnur um ihren Hals.
Weg. Verschwunden mitsamt dem Brustbeutel, den sie unter der Bluse zu tragen pflegte.
Dona Dolores, die am anderen Ende des Tisches Platz genommen hatte, hob fragend eine Augenbraue. Die Kinder krähten und schnatterten wild durcheinander. Die beiden Helferinnen reihten sich in die Schlange vor dem Imbiß ein, um die Getränke zu kaufen.
Wovon?
Kati schluckte trocken.
Dies war der Augenblick der Wahrheit. Länger ließ er sich nicht mehr hinauszögern.
»Ich muß mal kurz nach Hause«, brachte sie heiser hervor, »wie mache ich das am besten?«
»Gar nicht«, sagte Dona Dolores grimmig, »ich lege Ihnen das Geld vor. Auf allen Märkten wird gestohlen! Wußten Sie das nicht?«
»Aber ich hatte es in einem Brustbeutel.«
Dona Dolores machte eine verächtliche Handbewegung.
»Schnippschnapp! So schnell geht das!«
Aus den Tiefen ihrer kunstvoll zugeknüpften Rocktasche förderte Dona Dolores ihre Geldbörse zutage.
Obwohl damit das vordringlichste Problem gelöst war, empfand Kati die Situation als außerordentlich peinlich.
Auch fühlte sie sich zum ersten Mal zutiefst verunsichert.
Während die Kinder unentschlossen zwischen Püppchen und Matchbox-Autos, Spiel-Uhren und Brummkreiseln, Plüschbären und Schwimmtieren schwankten, fragte sich Kati ununterbrochen, wieviel Geld sie zu Hause in ihrem Safe liegen hatte, beziehungsweise wie es um ihr Konto bestellt war, zwei Tage vor Weihnachten, acht Tage vor der nächsten Gehaltszahlung.
Um nichts in der Welt wollte sie Dona Dolores die Auslagen bis zum Ende des Monats schuldig bleiben.
Unmöglich!
Schon wegen Miguel, den sie vielleicht gar nicht bekam, wenn sie pleite war. Ohnehin mußte man damit rechnen, daß Dona Dolores sich zu Kontrollzwecken einiges einfallen ließ: kurze, unangemeldete Besuche zu jeder Tages- und Nachtzeit, beispielsweise.
Bei einbrechender Dunkelheit kehrte die kleine Schar mit Geschenken beladen munter und fidel in die Casa de Santa Monica zurück, während Kati, am Ende ihrer Kraft, Dona Dolores um eine weitere Leihgabe bitten mußte, denn wie sonst hätte sie das Taxi in die Calle Trinidad bezahlen sollen?
Als sie sich mit demütig gesenktem Kopf verabschiedete, hoffte sie zu Gott, daß dies die letzte Prüfung eines schweren Tages gewesen sein sollte.
Aber ihr Gebet wurde nicht erhört.
An der Haustür von Nummer zwölf lehnte ein Tramper-Rucksack.
Aus dem Schatten der Mauer löste sich der dazugehörige Besitzer. Ein rostroter Haarschopf leutete auf im Schein der Straßenlaterne.
Nein! Das darf nicht wahr sein! dachte Kati entsetzt.
Aber jeder Zweifel war ausgeschlossen.
Vor ihr stand in staubigen Jeans, hohen Turnschuhen, kariertem Holzfällerhemd und schwarzer Lederweste kein anderer als Achim Unger aus Battenberg.
»Gelungen!« rief er halblaut und frohlockend.
»Was?« fragte Kati verständnislos.
»Meine Überraschung! Die ganze Zeit hab’ ich befürchtet, deine Geschwister würden alles verraten! He, du!« Er umarmte sie locker. »Komm zu dir! Ich bin’s! Zwanzig Stunden im Flieger unterwegs, nur um mit dir Weihnachten zu feiern! Was ist? Freust du dich nicht?«
»Mensch, Achim«, stieß Kati gepreßt hervor, »du müßtest mich doch gut genug kennen…«
»Klar doch!«
»Um zu wissen, daß ich für Überraschungen nichts übrig habe!«
»Ach ja? Also«, er lachte sorglos, »das ist mir doch total entfallen. Aber eine Dusche und ein kühles Getränk wirst du dem armen, übernächtigten Globetrotter doch nicht abschlagen. Schließlich habe ich diesen Mammut-Trip nur auf mich genommen, um dich vor einem weihnachtlichen Tiefpunkt zu bewahren. Heimweh, Trübsinn – man kennt das doch. Um diese Zeit hängt jeder durch.«
Kati umfing ihn mit einem konsternierten Blick.
»Komm rein«, seufzte sie, denn anderes gab es in diesem Moment leider nicht zu sagen.
*
»War gar nicht leicht, dich zu finden«, erklärte Achim am nächsten Morgen, nachdem er aus einem langen, totenähnlichen Schlaf erwacht war und sich einen Toast mit Erdnußbutter bestrich, »da wir ja alle nur die Adresse der Deutschen Schule hatten. Aber«, er nahm einen Schluck Kaffee und lächelte selbstgefällig, »ein alter Pfadfinder wie ich kommt immer ans Ziel. Sehr nett hast du es hier.« Er sah sich im Patio um. »Und so praktisch. Sag mal, warum setzt du dich nicht endlich hin?«
»Weil ich keine Zeit habe«, erwiderte Kati gepeinigt, »ich muß zur Bank. Ich bin schon viel zu spät dran. Mir ist gestern mein ganzes Bargeld geklaut geworden. Wenn ich jetzt nicht sofort losgehe, sitze ich über Weihnachten ohne einen Peso da. Falls du noch nichts umgewechselt hast, gilt das auch für dich. Die Banken sind ab heute nachmittag geschlossen.«
»Nö, nö, mit dem Nötigsten bin ich versorgt, und viel brauche ich ja nicht.«
Er zwinkerte Kati entwaffnend zu, füllte seine Tasse aus der Glaskanne ein zweites Mal und griff nach einer weiteren Toastscheibe.
»Paß mal auf, Achim«, begann sie, von einem Fuß auf den anderen tretend, »ich will dich nicht vertreiben, nur – also, um es kurz zu machen – ich habe schon etwas vor für die nächsten Tage.«
Er hob den Kopf, umgläubig, verwundert.
»Na wenn schon. Laß dich von mir nicht stören.«
»Das ist leichter gesagt, als getan. Du kannst nicht hier bleiben, denn ich bekomme Besuch.«
»Ach nee«, murmelte Achim verblüfft. Seine Selbstsicherheit