Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский

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die kleinsten Einzelheiten gewußt und die Tochter durch ihre schändlichen Ratschläge geleitet hätten. Kurz, in einem dicken Buche hätte all das nicht Platz gefunden, was die Klatschbasen beiderlei Geschlechts anläßlich dieses Vorfalls im ganzen Kreis schwatzten. Aber das Erstaunlichste war, daß der Fürst all diesem Gerede völligen Glauben schenkte und sogar einzig und allein aus diesem Grunde nach Wassiljewskoje gekommen war; er hatte nämlich in Petersburg eine anonyme Denunziation aus der Provinz erhalten. Allerdings hätte, wie es scheint, niemand, der Nikolai Sergejewitsch auch nur ein wenig kannte, ein Wort von all den gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen glauben können; aber wie das so zu gehen pflegt, machten sich alle trotzdem eifrig über die Sache her, redeten, schüttelten die Köpfe und – fällten ein Verdammungsurteil. Ichmenew seinerseits war zu stolz, um seine Tochter vor dem Tribunal der Klatschbasen zu verteidigen, und verbot auch seiner Frau streng, sich mit den Nachbarn auf irgendwelche Erörterungen einzulassen. Die so arg verleumdete Natascha selbst aber wußte sogar ein ganzes Jahr darauf noch so gut wie nichts von all diesem Gerede und Geschwätze: ihre Eltern hielten die ganze Geschichte sorgfältig vor ihr verborgen, und sie war heiter und unschuldig wie ein zwölfjähriges Kind.

      Inzwischen nahm der Streit mit dem Fürsten seinen Fortgang. Dienstfertige Leute zeigten sich geschäftig. Angeber und Zeugen traten auf und brachten den Fürsten schließlich zu der Überzeugung, daß Nikolai Sergejewitsch bei seiner langjährigen Verwaltung von Wassiljewskoje sich keineswegs durch musterhafte Ehrlichkeit ausgezeichnet habe. Ja noch mehr: vor drei Jahren habe Nikolai Sergejewitsch bei dem Verkauf eines Waldes eine Summe von zwölftausend Rubeln unterschlagen, was sich durch klare, vollgültige Beweise vor Gericht nachweisen lasse; und dabei habe er zu dem Verkauf des Waldes nicht einmal eine gesetzliche Vollmacht vom Fürsten besessen, sondern nach seinem eigenen Kopf gehandelt, den Fürsten erst nachträglich von der Notwendigkeit des Verkaufs überzeugt und für den Wald eine sehr viel geringere Summe als die tatsächlich empfangene abgeliefert. Selbstverständlich waren das alles nur Verleumdungen, wie es sich auch in der Folge herausstellte; aber der Fürst glaubte alles und nannte Nikolai Sergejewitsch vor Zeugen einen Dieb. Ichmenew nahm das nicht so hin, sondern antwortete mit einer ebenso schweren Beleidigung: es war eine schreckliche Szene. Sofort begann ein Prozeß. Nikolai Sergejewitsch war sehr bald nahe daran, diesen zu verlieren, einerseits weil er keine schriftlichen Belege vorzeigen konnte, besonders aber weil er keine Gönner hatte und in solchen Gerichtssachen keine Erfahrung besaß. Sein Gut wurde gerichtlich mit Beschlag belegt. Der aufgebrachte alte Mann ließ alles stehen und liegen und entschloß sich, nach Petersburg zu ziehen, um persönlich für seine Sache tätig zu sein; im Gouvernement aber übertrug er die Verwaltung seines Gutes einem erfahrenen Bevollmächtigten. Der Fürst erkannte, wie es scheint, bald, daß er Ichmenew grundlos beleidigt hatte. Aber die Beleidigung war von beiden Seiten eine so schwere gewesen, daß eine Aussöhnung ein Ding der Unmöglichkeit war, und so machte denn der Fürst in seinem Grimm alle Anstrengungen, um den Prozeß zu gewinnen, das heißt, in Wirklichkeit seinem früheren Verwalter das letzte Stück Brot wegzunehmen.

      Fünftes Kapitel

      So war also die Familie Ichmenew nach Petersburg gezogen. Ich beabsichtige nicht, mein Wiedersehen mit Natascha nach einer so langen Trennung zu schildern. Diese ganzen vier Jahre über hatte ich immer an sie gedacht. Allerdings war ich mir über das Gefühl, mit dem ich an sie gedacht hatte, selbst nicht ganz klar gewesen; aber als wir uns nun wiedererblickten, erkannte ich bald, daß sie mir vom Schicksal bestimmt sei. Anfangs, in den ersten Tagen nach der Ankunft der Familie, schien es mir immer, als habe Natascha sich in diesen Jahren nur wenig weiterentwickelt, als habe sie sich nicht verändert und sei noch dasselbe Mädchen geblieben, das sie vor unserer Trennung gewesen war. Aber dann entdeckte ich Tag für Tag an ihr etwas Neues, mir bisher ganz Unbekanntes, gerade als ob das Mädchen es absichtlich vor mir verheimlicht und verborgen habe – und welchen Genuß gewährten mir diese Entdeckungen! Der Alte war in der ersten Zeit nach der Übersiedlung nach Petersburg sehr reizbar und verbittert. Seine Sache ging schlecht; er war entrüstet, ganz außer sich, quälte sich mit Prozeßakten ab und war nicht in der Stimmung, sich mit uns abzugeben. Anna Andrejewna aber ging wie betäubt umher und konnte anfangs keinen klaren Gedanken fassen. Petersburg beängstigte sie. Sie seufzte, fühlte sich bedrückt, dachte mit Tränen an ihr früheres Leben und an Ichmenewka zurück und war traurig darüber, daß Natascha nun erwachsen sei und niemand sie beachte. Über diesen letzten Punkt ließ sie sich mit mir in Gespräche von seltsamer Offenherzigkeit ein, wohl in Ermangelung eines andern, der zu vertraulichen Mitteilungen geeigneter gewesen wäre. Gerade zu dieser Zeit, nicht lange vor der Ankunft der Familie Ichmenew, hatte ich meinen ersten Roman beendet, eben den, mit welchem meine Laufbahn begann, und wußte als Neuling zuerst nicht, wo ich ihn unterbringen sollte. Bei Ichmenews hatte ich davon keine Silbe gesagt; sie hatten sich mit mir beinahe schon verfeindet, weil ich ein Müßiggänger sei, das heißt nicht in den Staatsdienst träte und mir keine Mühe gäbe, eine Stelle zu finden. Der Alte hatte mich ernstlich und sogar in recht scharfen Ausdrücken ausgescholten, natürlich aus väterlicher Anteilnahme an meinem Ergehen. Ich aber hatte mich geradezu geschämt, ihnen zu sagen, womit ich mich beschäftigte. Und in der Tat, wie konnte ich ihnen geradeheraus sagen, daß ich gar kein Amt übernehmen, sondern Romane schreiben wolle? Deswegen hatte ich sie einstweilen getäuscht und gesagt, ich hätte noch keine Stelle bekommen können, sei aber eifrig auf der Suche. Der alte Ichmenew hatte keine Zeit gehabt, die Wahrheit meiner Angaben nachzuprüfen. Als Natascha einmal unsere Gespräche mit angehört hatte, hatte sie mich insgeheim beiseite geführt und mich unter Tränen angefleht, doch an meine Zukunft zu denken; sie hatte mich dringlich befragt, was ich eigentlich täte, und als ich mich auch ihr nicht entdeckte, hatte sie mir darauf den Eid abgenommen, daß ich mich nicht durch Faulheit und Müßiggang zugrunde richten würde. Ich hatte ihr nicht bekannt, womit ich mich beschäftigte, und doch wäre ein einziges beifälliges Wort von ihr über meine Arbeit, über meinen ersten Roman, mir wertvoller gewesen als alles, was ich später an schmeichelhaften Äußerungen der Kritiker und anderer Beurteiler zu hören bekam. Und nun war mein Roman endlich erschienen! Schon lange vor seinem Erscheinen hatte er in der literarischen Welt Aufsehen erregt. Der Kritiker B. hatte sich gefreut wie ein Kind, als er mein Manuskript las. Aber wenn ich jemals glücklich gewesen bin, so war ich es nicht in den ersten berauschenden Augenblicken des Erfolges, sondern damals, als ich mein Manuskript noch niemandem vorgelesen und gezeigt hatte, in jenen langen Nächten inmitten entzückter Hoffnungen und Zukunftsträumereien und leidenschaftlicher Liebe zur Arbeit, als ich mit meinen Phantasiegebilden zusammenlebte, mit den Personen, die ich selbst geschaffen hatte, verkehrte, als ob sie meine Verwandten und wirklich existierende Wesen wären, sie liebte, mich mit ihnen freute und mit ihnen trauerte und manchmal sogar die aufrichtigsten Tränen über das Schicksal meines schlichten Helden vergoß. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sich die beiden alten Leute über meinen Erfolg freuten, obgleich sie zuerst furchtbar erstaunt waren; es war doch eine gar zu seltsame Überraschung für sie! So wollte Anna Andrejewna es absolut nicht glauben, daß der neue, allgemein gerühmte Schriftsteller dieser selbe Wanja sei, der … und schüttelte immer nur mit dem Kopfe. Der Alte wollte sich lange Zeit nicht überwunden geben und bekam anfangs, bei den ersten Gerüchten, sogar einen Schreck; er begann von der zerstörten dienstlichen Karriere und von der unordentlichen Lebensweise aller Schriftsteller in Bausch und Bogen zu reden. Aber die unaufhörlichen neuen Gerüchte, die Artikel in den Zeitschriften und endlich einige lobende Worte, die er über mich von Leuten gehört hatte, denen er respektvoll Glauben schenkte, veranlaßten ihn, seine Meinung über die Sache zu ändern. Als er aber wahrnahm, daß ich auf einmal zu Geld gelangt war, und erfuhr, welche Bezahlung man für schriftstellerische Arbeit erhalten kann, da schwanden auch seine letzten Bedenken. Schnell vom Zweifel zu vollem, entzücktem Glauben übergehend, freute er sich wie ein Band über mein Glück und gab sich auf einmal den ausschweifendsten Hoffnungen, den zügellosesten Phantasien über meine Zukunft hin. Alle Tage entwarf er neue Pläne für meine Karriere, und was war nicht alles in diesen Plänen enthalten! Er begann sogar, mir eine besondere Art von Achtung zu bezeigen, die er mir bis dahin nicht erwiesen hatte. Aber doch stürmten manchmal wieder die alten Zweifel plötzlich auf ihn ein, oft mitten im entzücktesten Phantasieren, und machten ihn wieder in seinem Glauben irre.

      »Autor, Dichter! Wie sonderbar das klingt… Aber wann sind Dichter zu Rang und Würden gelangt?

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