Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

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Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри

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      Jeden Tag bekam die Rose zwei verschiedene Bilder von sich gemalt. Des Morgens und des Abends. Jeden Tag holte die Fürstin aus ihrem Gedächtnisschrein eine andere Untat ihrer Tochter hervor und präsentierte sie ihr. Die Rose ließ ihren schönen Kopf hängen und schwieg. Sie sagte höchstens: »Es hat mir damals nicht so ausgesehen, aber ich glaube wohl, daß du es so empfinden mußtest. Es tut mir leid, es tut mir sehr leid.« Sie kam immer mit dem gleichen ernstfreundlichen Antlitz herein, und sie verließ fast nie das Zimmer, ohne daß die Fürstin Tränen auf ihrem Gesicht gesehen hatte.

      Die Tante Marga sagte zu ihrer Schwester: »Es ist höchst wunderlich, die Rose auf ihrer Anklagebank sitzen zu sehen. Bis jetzt tut Cousine Charlotte ja nichts anderes als Steine nach ihr werfen. Sie wird immer geschickter und treffsicherer. Wenn sie die Rose zum Weinen gebracht hat, ist sie erst befriedigt. Ich möchte wissen, wozu das dienen soll.«

      »Ich möchte die Durchlaucht schlagen,« erwiderte Ulrike. »Es gehören ihr Ohrfeigen. Sie lechzt vielleicht danach, und wir tun es zu ihrem Schaden nicht. Dieses pädagogische Mittel, das die Neuzeit, die nichts versteht und vor weichlicher Sentimentalität sich noch die größten Grausamkeiten antut, so verachtet, hätte ich schon lange angewendet. Die Rose ahnt es und läßt mich deshalb nicht hinauf. Wenn ich auch noch sehr fühle, daß Vater mit unserer Arbeitsteilung nicht einverstanden wäre, Marga. Ich habe alle Süßigkeit und du alle Bitterkeit. Es ist ein Hohn auf alle Gerechtigkeit.«

      »Da ist manches ein Hohn,« seufzte Marga. »Ich wundere mich immer im stillen über zwei Dinge. Du weißt, daß Charlotte die entsetzliche Unruhe in den Füßen immer noch hat. Nur mit Morphiumeinspritzungen kann sie ins Bett gebracht werden, und selbst dann ist morgens jedes noch so fest gestreckte Laken zusammengeballt und zerrissen. Wenn die Rose kommt und so lange sie da ist, hält sie still. Es ist sehr wunderbar, und den beiden Schwestern ist es auch aufgefallen.

      Und das zweite: Ob die Fürstin wohl einmal ihren schlimmen Sack zu Ende geleert hat? Sie bringt jetzt schon recht häufig Dubletten.«

      »Da kannst du in Ewigkeit warten,« sagte Ulrike finster, »mit Variationen und Beleuchtungseffekten dressiert sie ihre Ladenhüter immer wieder auf. Sie wird noch an der Arbeit sein, wenn die Rose sie längst nicht mehr hört. Und ich frage mich jeden Tag, wozu! Aber man muß sie machen lassen.«

      Fünfzigstes Kapitel.

       Von Heinz und Gisela

       Inhaltsverzeichnis

      Nun beginnen die schönen Musikabende in Brauneck. Hans Friedrich war angekommen, und der Steinwayflügel der Fürstin in den Saal geschafft worden. Dort konnte sich sein Klang großartig entfalten, und der Ort war auch am günstigsten für die Rose. Eine herrliche leichte Luft war immer drinnen, die altmodischen Riesenöfen waren mit Holz geheizt, und dazu standen die Fenster offen. Und Rose konnte Musik viel besser ertragen, als man gedacht hatte, und allmählich begann auch Harro, dem gewagten Plan des Fürsten und seines Freundes ein wärmeres Interesse zu schenken. Der Künstler weihte sie in den Aufbau des Werkes ein, er spielte ihnen einige Teile daraus vor, erklärte die Motive, die Art der Ausführungen. Die klingenden Seelen des Heinz von Brauneck und der Gisela schwirrten wieder durch die alte Heimat, durch den Saal, wo einst die kleine Hausorgel des Grafen von Brauneck gestanden hatte. Die Rose vergaß alles über dem Zuhören, sie lebte so lange in einer höheren Welt, aus der sie zuweilen fast schmerzlich wieder zurückkehrte. Harro taktierte häufig seinen Viervierteltakt in die Reden seines Freundes hinein, wenn die Gisela allzusehr die Züge von Rosmaries Dämon annahm.

      Einmal sprach er vorsichtig mit dem Herrn Stiftsprediger darüber. Er stand ihm ja immer noch fremd und mißtrauisch gegenüber. Die Rose empfing ihren Lehrer auch nie wieder ohne ihren Mann. Und Harro mußte selbst gestehen, daß der geistliche Herr seine Reservatrechte schonte. Er war nicht für das Ausfragen, er brachte der Gräfin aus seinem wunderbaren Papierblätterwald ein Lied mit, gewöhnlich ein paar Verse nur, von der ersten Zeit der deutschen Dichtung an bis zu den Herren Dehmel und Bierbaum. Das legte er neben die Rose hin in einem sauberen Blättchen als einen köstlichen Fund, und dann sprachen sie darüber.

      Er blieb immer sehr kurz, auch wenn es den beiden leid tat. Und wenn ihn Harro hinausbegleitete, sagte er: »Ich darf Ihnen nicht zu viel Zeit nehmen, Herr Graf. Ich freue mich aber jedesmal, wenn ich Ihre Durchlaucht sehen kann.« Von den allerfeinsten Fäden, die zwischen den beiden, dem Lehrer und seiner Schülerin, liefen und wie himmlisches Gold erglänzten, konnte Harro nichts wissen und doch fühlte er sich leicht vor der Türe zwischen ihnen. Das hinderte ihn, sein Herz dem geistlichen Herrn so zu erschließen, wie es ihn doch oft verlangte. Seine Herrennatur widerstrebte. Aber um die Gisela von Brauneck im siebzehnten Jahrhundert konnte er ihn wohl fragen.

      Zunächst versicherte ihm die Rose, daß ihr Lehrer nichts wissen könnte von dem, was in ihrem zweiten Leben eine so große Rolle spielte. So saß denn Harro wieder bei den vielen Büchern, nachdem er sich der jubelnden kleinen Erika entwunden hatte.

      »Wir interessieren uns für eine Gräfin Gisela von Brauneck, die eine Thorstein war, und von deren Anteil an dem Chorwerk Sie schon gehört haben. Herr Rat hat nur sehr dürftige Notizen. Wohltätig und gütig gegen die Armen, es gibt Stiftungen auf ihren Namen, oder den ihres Mannes. Wissen Sie vielleicht etwas Näheres?«

      »Ihre Leichenrede habe ich. Sie wissen, daß sie mit ihrem Gemahl zusammen begraben wurde. Er ist verunglückt, sie starb ihm nach.«

      »Ach, darum,« rief Harro, »sie wurden überrascht, darum der Zustand des Chorwerks. Sie waren plötzlich davon gegangen, und mit ihrem Nachlaß wußte kein Mensch irgend etwas anzufangen. So ist sie denn auch verunglückt, daß sie starb?«

      »Nein, sie hatte ein schweres und der damaligen ärztlichen Kunst rätselhaftes Leiden.«

      »Himmel,« seufzte Harro, »muß das ein Glückspilz gewesen sein, dieser Braunecker Heinz! Macht die allerschönste Musik, hat die liebevollste Frau, die ihm dient und ihn ganz versteht, und wie die grauen Tage kommen, streckt er sich aus und siedelt in sein himmlisches Musikland über. Wer starb denn zuerst?«

      »Er ging ihr voran. Es ist nicht sicher, um wieviel. Am selben Tage noch folgte sie ihm.«

      »Sehen Sie, Herr Stiftsprediger, den Glücksmenschen! Das Licht aus den Augen mußte er nicht schwinden sehen. Und, Herr Stiftsprediger, wenn diese unmögliche Geschichte hier wirklich wahr werden soll, dann werden Sie den Mann jubeln hören: Jauchzet dem Herrn alle Welt, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken! So beginnt er. Aber ich will nichts vorweg nehmen. Er nahm ja alles vorweg, dieser Heinz, überließ die Mühe seiner Frau und die Arbeit meinem Freunde Hans Friedrich und schwelgte nur in dem künstlerischen Hochgenuß der Konzeption, schmierte seinen roten Bleistift hinein und überließ das andere mit einer großartig herablassenden Gebärde – ich sehe ihn vor mir, den Mann, Herr Stiftsprediger – seiner Frau und meinem Hans Friedrich.« Herr Stiftsprediger zuckte lächelnd die Achseln: »Die Götterlieblinge, Herr Graf. Er soll sogar nicht gestorben sein!«

      Harro schaute auf. »Herr Stiftsprediger,« rief er. »Erzählen Sie, ich lasse nicht los, ich schlage Wurzel hier. Erzählen Sie mir das Märchen. Ich will es meiner Rose mitbringen.«

      Der Herr Stiftsprediger tauchte in seine Papierabgründe und kam wieder mit einem ehrwürdigen Oktavblatt. »Das Märchen stammt sogar aus einer gedruckten Leichenrede, dem Teil, den man den Lebenslauf nennt. Von meinem Kollegen von dazumal.« Er las: »Ihr wisset alle, und ist keiner unter euch, die ihr mit tränenden Augen dasitzt, der es nicht schon gehört hätte, daß dieser hochselig Entschlafenen die Segensgabe verliehen sei, daß dieselben Seelen, welche in ihren Armen sich auf

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