Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

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Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри

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gewürdiget wurde. Es gilt von ihnen das Wort: Der Tod ist ein Schlaf worden. Da nun die Gräfin sähe, daß es mit dem seligen Grafen, unserm geliebten Jungherren, zu Ende gehe, und er sein junges Leben im Dienste eurer Kindlein werde verlieren müssen, erhob sie sich, die zuvor keine Kraft mehr gehabt hatte, und nahm euern geliebten Herrn in ihre Arme und neigte sich über ihn. Also daß ihr Schatten ihn ganz bedeckte, und verdeckte ihn mit ihren Haaren. Und erhob das Antlitz wieder und legte ihn hin. Da war seine Seele von seinem Leibe geschieden, wie wir in dem Lied gesungen haben:

      Im Augenblick wird sie erheben sich

       Bis an das Firmament,

       Wenn sie verläßt so sanft, so wunderlich

       Die Stätt' der Element'.«

      Der Herr Stiftsprediger ließ das Blatt sinken. Harro war aufgesprungen. Er war totenblaß und seine Augen flammten.

      »Der Schleier der Gisela,« rief er. »Herr Stiftsprediger, Sie wissen nicht, was Sie gefügt haben ... kommen Sie mit mir! Ihre Stube ist zu klein für mich, es erdrückt mich, oh, kommen Sie doch mit mir! Ich habe es immer gewußt, daß Sie der richtige Geheimnisträger sind. Ich war eifersüchtig, mißtrauisch, rüpelhaft. Ich bitte um Verzeihung... O Gott, haben Sie für jeden, der zu Ihnen kommt, solche Tröste vorrätig! Ich komme zu Ihnen und will etwas erfahren und rede keinen Ton davon, was ich eigentlich will, und es ist, als ob Sie wüßten, was für Höllenhunde mich jagen, was für Riesenweiber der Angst und Verzweiflung. Und Sie bücken sich in Ihren Kram und holen das einzige zwischen Himmel und Erde heraus, was mich trösten kann.«

      Die stillen Augen des Herrn Stiftspredigers strahlten. »Herr Graf, wir alle leiden mit Ihnen, und ich habe Ihnen ja nicht ganz, ohne an Sie und Ihr Kreuz zu denken, den alten Tröster hervorgeholt, aber daß Sie es sich so anzueignen vermögen, das habe ich nicht hoffen können.«

      »Kommen Sie mit mir,« flehte Harro, »ich brauche einen Himmel über mir, die Wände drücken mich.«

      Die beiden Herren gingen die Straße hinunter zum Park. Harro stürmte voraus, daß der Stiftsprediger seinen langen Schritten kaum folgen konnte. Unter den alten hohen Kastanien, wo sich der Blick in das Tal mit seinem Silberfluß öffnete, blieb Harro stehen und lehnte sich an einen der dicken Stämme. Er hatte sich wieder gefaßt und streckte dem andern seine Hand hin.

      »Sehen Sie, das ist der Ring des Heinz von Brauneck. Mein eigentlicher Verlobungsring. Ich trage ihn nun schon zwölf Jahre. Sie staunen, nicht wahr, daß ich so lange schon verlobt bin. Da war die Prinzessin elf Jahre. Der Fürst gab mir den Ring zum Dank für die sogenannte Rettung seiner Tochter. Er wählte ihn, weil mein eigenes Wappen darauf ist. Hier, den Spruch hätte sich keiner von uns herausgesucht. Lesen Sie: Gottes Will hat kein Warumb. Die Prinzessin, gab ihn mir feierlich und sagte: ›Er gehört dem Schönsten.‹ Niemand verstand sie damals. Herr Stiftsprediger, es gibt sehr wunderliche Dinge. Sie kennt ihn, so lange sie denken kann, den Glücksmenschen, der zur rechten Zeit zu sterben verstand. Sie kennt auch die Frau mit dem Charisma.«

      Der Geistliche sah ihn verwundert an. »Sehen Sie,« fuhr Harro fort, »Sie verwundern sich, ich hoffe sehr, innigst hoffe ich, daß Sie mit einer Erklärung bereit sind. Es paßt in keine mir bekannte Weltanschauung hinein, dieses noch einmal auf Erdenweilen von Seelen. Nicht von Gespenstern.« »Meine Weltanschauung, an der ich schon lange zimmere,« antwortete der Stiftsprediger, »steht zwar in ihren Grundzügen fest, die ändert nichts mehr. Sie hat aber Fenster und Türen, wo noch allerhand herein kann. Ich lasse mich überraschen und werde mich überraschen lassen. Ich hoffe noch auf Überraschungen.... Ich denke mir übrigens, daß Sie gerne noch mehr von dieser Gräfin Gisela wissen möchten. Ich weiß noch einiges, wollte Ihnen aber zuerst mit diesem schönen Bilde kommen, ehe Sie das andere sehen.«

      »Ein Geheimnisträger sind Sie, Herr Stiftsprediger, gehen neben mir her, wissen die Dinge, die mich schon aufs tiefste angegriffen haben... Die Rose hat recht. Ach, warum bin ich ein so blinder Maulwurf. Neulich ritt sie auf einem müden Schimmel an der Klinge an uns vorbei, während ich einen Ebereschenzweig herunterholte. Was gäb ich um einen Blick. Aber ich bin ein Maulwurf. Ich sehe nichts. Mein Gaul ist klüger, der wurde unruhig, was er sonst nie tut, wenn ich ihm sage: steh still. Ein Pferd sieht mehr wie ich.«

      »Schmähen Sie Ihre Augen nicht, Herr Graf. Sie sehen tausendmal mehr als wir alle. Und nun werde ich Ihnen sagen, was ich sonst noch weiß. Ein Beichtgeheimnis. Es findet sich bei mir ein alter Kasten mit einer Schublade, worauf steht: Geheim. Nur für den Nachfolger im Amt ist sein Inhalt bestimmt. Es liegt mancher alte Jammer darin, Herr Graf, den man besser nicht aufrührt. Ich habe eine Leidenschaft für alte Papiere und habe mir manchmal das Herz daran verbrannt. Diese Gisela von Thorstein! Sie ist Ihre und Ihrer Durchlaucht Ahnfrau, weshalb ich um Entschuldigung bitte, wenn ich da...!«

      »Reden Sie weiter, Herr Stiftsprediger.«

      »Diese Gräfin soll eine Hexe gewesen sein, und so stark ruhte der Verdacht auf ihr, daß sie trotz ihres hohen Standes hier Monate lang im roten Turm in Untersuchungshaft war. Was das bedeutet, wissen Sie vielleicht. Die Akten sind vernichtet worden, wie natürlich; es existieren nur Aufzeichnungen daraus von der Hand meines damaligen Kollegen, eben des Leichenredners. Die schändlichsten Dinge wurden ihr vorgeworfen, der rote Turm wird manchen unruhigen Schritt von ihr gehört haben. Dann wieder manches, was uns nur lieblich und sogar poetisch anmutet. Sie tanzt allein im Mondschein unter der Linde und singt dazu in zwei Stimmen. Ihre Schönheit wird ihr vorgeworfen, der Zauber, den sie an sich hat, und der so groß gewesen sei, daß sie nicht nur die Menschen, sondern auch die unvernünftige Kreatur bezwungen habe. Zu einem Prozeß scheint es aber nicht gekommen zu sein. Eines der vielen Rätsel, die diese Geschichte aufgibt.«

      »Sie sah aus wie meine Frau, nur noch schöner sei sie gewesen, alle Farben stärker, dunkler das Haar, die Augen auch wohl nicht ganz so groß. Nun, sie hat sich aus diesem Turme wieder herausgezaubert, dies wundert mich gar nicht. Wer brächte es fertig, außer vielleicht in schlimmen Worten, meiner Frau so etwas anzutun. Gäbe es einen Kerkermeister, der ihr nicht bei Nacht über den Zaun hülfe, wenn sie ihn so recht herzbeweglich ansähe!«

      »Mich wundert es aber, Herr Graf, mich wundert es sehr; wenn dieser Unglückskarren einmal angestoßen war, rollte er erbarmungslos über Schönheit und Jugend und Lieblichkeit hinweg.«

      »Und der Herr Kollege, der die schöne Leichenrede hielt, wofür hat der sie gehalten?«

      »Für eine Heilige. Er nennt sie so. So ganz leicht ist sie nicht aus dem Turm gekommen, der Kollege hat sehr sorgfältig durch eine lange Amtszeit jede Kommunion, auch Privatkommunion vermerkt. Er gab sie ihr in ihrer schweren Krankheit in Schloß Schweigen, dabei nennt er sie: unsere liebe Heilige. Nun, sie kann wohl krank geworden sein infolge des langen Schreckens. Es ist ja nicht anders möglich. Denn wenn sie wirklich in ihrem roten Turm einige Stockwerke tiefer hinuntergekommen wäre, so wäre sie dadurch unehrlich geworden. Eine Ehe nachher mit dem Grafen wäre ganz ausgeschlossen gewesen. Und doch...«

      Harro rief: »Meine Frau sagt, sie habe tiefe, breite Narben an ihren Armen. Hier das Zeichen.... Meine Frau, ihr Vater, sie haben beide an dem Handgelenk rote Streifen. Ein Muttermal. Bei meiner Frau ist es so stark, es ist besonders stark jetzt, weil sie leicht die Farbe wechselt.«

      Der Stiftsprediger sagte: »Es wundert mich nicht, obgleich das Rätsel bestehen bleibt. Denn man erfährt von jener Kommunion an nichts mehr von der Heiligen und von der Hexe bis zu ihrem Einzug in Brauneck als Grafenbraut unter Glockengeläute und unter allgemeinem Jubel. Der Jubel ist so groß, daß es heißt, die Stadt konnte die Menge nicht fassen, die herbeigeströmt war, und wer nur ein Läublein erhaschen konnte, mit dem der Weg bestreut war, der schätzte sich glücklich. Dies habe ich aus einem Memorandum, das der Herr Rat besitzt. Von einem damaligen gräflichen Schreiben. Die Braut wird beschrieben in einem grünen Reitkleid

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