Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter Benjamin страница 23
Sie schritten, der Geist und Scrooge, über den modrigen Hausflur zu einer Tür in der Rückfront des Hauses. Sie öffnete sich vor ihnen und zeigte ihnen einen langen, kahlen, trostlosen Saal, noch kahler und trostloser gemacht durch die Reihen von einfachen hölzernen Bänken.
Auf einer der Bänke saß ein einsamer Knabe neben einem schwachen Feuer und las; und Scrooge setzte sich auf eine Bank nieder und weinte, sein eigenes, vergessenes Ebenbild, wie es in früheren Jahren war, wiederzusehen.
Kein schwaches Echo in dem Hause, kein Rascheln der Mäuse hinter der Täfelung, kein Getröpfel der halbgefrorenen Wasserröhre in dem Hofe rückwärts, kein Seufzer in den blattlosen Zweigen einer verlassen trauernden Pappel, nicht das Klappen der vom Winde hin und her bewegten Tür der leeren Vorratsräume, selbst nicht das Knistern des Feuers waren für Scrooge verloren. Alles traf sein Herz mit rührenden Klängen und löste seine Tränen.
Der Geist berührte seinen Arm und deutete auf sein jüngeres, in ein Buch vertieftes Selbst. Überraschend stand auf einmal ein Mann in fremdartiger Kleidung da, wunderlich und seltsam anzusehen, mit einer Axt im Gürtel, der einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führte.
»Wie! das ist ja Ali Baba!« rief Scrooge voller Freude aus. »Es ist der liebe, alte, brave Ali Baba. Ja, ja, ich weiß noch. Einst zu Weihnachten, als jener verlassene Knabe hier ganz allein saß, kam er zum erstenmal, gerade wie jetzt. Der arme Junge! Und Valentin«, fuhr Scrooge fort, »und sein wilder Bruder Orson, da gehen sie. Und wie hieß doch jener, der, während er schlief, vor das Tor von Damaskus gesetzt wurde? Siehst du ihn nicht! Und der Stallmeister des Sultans, der von den Genien auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er! Geschieht ihm recht! Warum mußte er auch die Prinzessin heiraten!«
Scrooge mit allem Ernst und mit einer sonderbaren Stimme zwischen Lachen und Weinen über solche Gegenstände reden zu hören und sein vor Freude erregtes Gesicht zu sehen, wäre für seine Geschäftsfreunde in der City in der Tat eine große Überraschung gewesen.
»Da ist auch der Papagei«, rief Scrooge, »mit grünem Leib und gelbem Schweif, da ist er! Oben auf dem Kopf wächst wie ein Gemüsebüschelchen ein Etwas heraus. ›Robinson Crusoe!‹ rief der Papagei ihm zu, als jener wieder von seiner Umsegelung der Insel nach Hause kam, ›Robinson Crusoe, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume; aber es war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag nach der kleinen Landenge, um sein Leben zu retten. Hallo, hopp, hallo!«
Dann sagte er mit einem schnellen Wechsel der Gefühle, der seinem sonstigen Charakter sehr fremd war: »Der arme Knabe!« und er weinte von neuem.
»Ich wollte«, murmelte Scrooge, die Hand in die Tasche steckend und um sich blickend, nachdem er sich mit dem Rockaufschlag die Augen gerieben hatte, »aber es ist zu spät jetzt.«
»Was willst du?« fragte der Geist.
»Nichts«, sagte Scrooge, »nichts. Gestern abend sang vor meiner Tür ein Knabe ein Weihnachtslied. Ich wünschte, ich hätte ihm etwas gegeben; das ist alles.«
Der Geist lächelte bedächtig, winkte mit der Hand und sagte dann: »Laß uns ein anderes Weihnachten sehen.«
Scrooges früheres Selbst wuchs bei diesen Worten, und das Zimmer wurde etwas dunkler und verschmutzter. Die Täfelung warf sich, die Fensterscheiben sprangen; Stücke Kalkbewurf fielen von der Decke und das nackte Bretterwerk zeigte sich; aber wie das alles geschah, wußte Scrooge ebensowenig wie ihr. Er wußte nur, alles erfolge ganz gehörig, er sei es wieder, der dort allein sitze, während die anderen Knaben nach Hause gereist waren zur fröhlichen Weihnachtsfeier.
Er las nicht, sondern ging in Verzweiflung und Düsternis im Zimmer auf und ab. Scrooge blickte den Geist an und schaute mit einem traurigen Kopfschütteln ängstlich nach der Tür.
Sie ging auf, und ein kleines Mädchen, viel jünger als der Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Nacken, küßte ihn und begrüßte ihn als ihren »lieben, lieben Bruder.«
»Ich komme, um dich nach Hause zu holen, lieber Bruder!« sagte das Kind, fröhlich in die Hände klatschend. »Dich nach Hause zu holen, nach Hause!«
»Nach Hause, liebe Fanny?« fragte der Knabe.
»Gewiß!« antwortete die Kleine, in überströmender Fröhlichkeit. »Nach Hause und für immer. Der Vater ist soviel freundlicher als sonst, daß es bei uns wie im Himmel zugeht. Er sprach eines Abends, als ich zu Bett ging, so freundlich mit mir, daß ich mir den Mut nahm und ihn noch einmal fragte, ob du nicht nach Hause kommen dürftest. Er sagte ja und sendet mich im Wagen her, um dich zu holen. Und du sollst jetzt dein eigner Herr sein«, sagte das Kind, und blickte ihn bewundernd an, »und nicht mehr hierher zurückreisen. Aber erst sollen wir alle zusammen das Weihnachtsfest feiern und die fröhlichste Feier in der ganzen Welt haben.«
»Du bist ja eine richtige Dame geworden, kleine Fanny!« rief der Knabe aus.
Sie klatschte in die Hände, lachte und versuchte, bis an seinen Kopf zu reichen; aber da sie zu klein war, lachte sie wieder und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie ihn in kindlicher Ungeduld nach der Tür, und er begleitete sie mit leichtem Herzen.
Eine schreckliche Stimme in dem Hausflur rief: »Bringt Master Scrooges Koffer herunter!« Und in dem Hausflur erschien der Schullehrer selbst, der Master Scrooge mit erschreckender Herablassung musterte und ihn in große Angst versetzte, als er ihm die Hand drückte. Dann geleitete er ihn und seine Schwester in das Innere eines unfreundlichen, feuchtkalten Sprechzimmers, wo die Landkarten an den Wänden und in den Fenstern vor Kälte glänzten. Hier brachte er einen Krug merkwürdig leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen herbei und bewirtete das Jungvolk schonend sparsam mit diesen auserlesenen Leckerbissen. Zugleich schickte er eine hungrig aussehende Magd hinaus, um dem Post-Boy ein Schlückchen anzubieten, wofür dieser aber mit der Bemerkung dankte, wenn es von demselben Faß wie das vorige sei, möchte er lieber nicht davon probieren. Während dieser Zeit war Master Scrooges Koffer auf dem Wagen befestigt worden, und die Kinder nahmen ohne Bedauern von dem Schulmeister Abschied, setzten sich in die Kutsche und fuhren so schnell zum Garten hinaus, daß der Reif und der Schnee von den dunklen Blättern des Immergrüns wie Puder stoben.
»Sie war immer ein zartes Wesen, das ein Hauch hätte vernichten können«, sagte der Geist. »Aber sie hatte ein liebreiches Herz.«
»Ja, das hatte sie«, rief Scrooge. »Ich will nicht widersprechen, Geist. Gott behüte! nein.«
»Sie starb verheiratet«, sagte der Geist, »und hatte Kinder, glaube ich.«
»Eines nur«, antwortete Scrooge.
»Ja«, sagte der Geist. »Dein Neffe.«
Scrooge schien unruhig in seinem Gemüt zu werden und er antwortete kurz: »Ja«.
Obgleich sie die Schule nur einen Augenblick hinter sich gelassen hatten, befanden sie sich doch jetzt mitten in den lebendigsten Straßen der Stadt, wo