Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

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      »Wünschen Sie welches?« sagte dann Britain zu Craggs.

      »Mager und gebräunt«, antwortete dieser.

      Nachdem er die Wünsche dieser beiden erledigt und den Doktor leidlich bedient hatte (er schien zu wissen, daß die anderen nach Speise kein Verlangen trugen), blieb er den beiden Anwälten so nahe, wie es nur der Anstand erlaubte, und beobachtete sie mit starrem Blick. Nur einmal besänftigte sich sein unfreundliches Gesicht ein wenig, nämlich als Mister Craggs, dessen Zähne nicht die besten waren, sich verschluckt hatte und von einem heftigen Hustenanfall befallen wurde. Da rief er mit besonderer Lebhaftigkeit aus: »Ich dachte, er sollte ersticken!«

      »Nun, Alfred«, sagte der Doktor, »ein paar Worte über Geschäftssachen, solange wir noch beim Frühstück sind.«

      »Solange wir noch beim Frühstück sind«, sagten Snitchey und Craggs, die noch gar nicht ans Aufhören denken mochten.

      Obwohl Alfred nicht gefrühstückt hatte und offenbar nachgerade beschäftigt war, so gab er doch ehrerbietig zur Antwort: »Wie es Ihnen angenehm ist, Sir!«

      »Wenn es etwas Ernsthaftes geben sollte«, begann der Doktor, »in diesem –«

      »In diesem Possenspiel«, fuhr der Doktor fort, »so wäre es solch ein Zusammentreffen des Abschiedstages mit einem doppelten Geburtstage, an den sich für uns vier manche freundliche Erinnerung knüpft, und der uns immer unser langes und freundschaftliches Zusammensein ins Gedächtnis zurückrufen wird. Doch das gehört nicht hierher.«

      »O doch, Doktor Jeddler«, sagte der Jüngling. »Sicher gehört es hierher, das sagt mir mein Herz heute morgen, und das Ihre würde es auch tun, wenn Sie nur darauf hören wollten. Ich verlasse heute Ihr Heim; ich höre heute auf, Ihr Mündel zu sein; wir scheiden als halbe Verwandte, die ein Band lösen, während andere Bande schon in der Zukunft locken«, er blickte bei diesen Worten auf Marion, die an seiner Seite saß, hernieder, »Bande, so reich an Hoffnungen, wie es Worte nicht auszudrücken vermögen. Sie sehen«, setzte er fröhlich hinzu, »Sie sehen, Doktor, es ist noch ein Körnchen Ernst in diesem großen närrischen Haufen Nichtigkeit. Heute wollen wir wenigstens eingestehen, daß noch ein Körnchen Ernst vorhanden ist.«

      »Heute!« rief der Doktor. »Hört nur, hört! ha, ha, ha! Gerade heute von allen Tagen im Lauf des närrischen Jahres. Was, heute, wo hier die große Schlacht geschlagen wurde? Auf diesem Platze, wo wir jetzt sitzen, wo ich meine Mädchen heute morgen tanzen sah, wo das Obst für unser Frühstück von diesen Bäumen gepflückt wurde, von Bäumen, die nicht in der Erde, sondern in Menschen wurzeln, traf so viele der Tod, daß in meiner Jugend noch – und auch für spätere Generationen wird das der Fall sein – ein guter Kirchhof voll Gebeine, und Staub von Gebeinen, und Splitter gespaltener Schädel hier ausgegraben wurden. Und doch wußten nicht hundert Menschen in dieser Schlacht, wofür und warum sie kämpften; nicht hundert derer, die über den Sieg frohlockten, warum sie es taten! Nicht fünfzig Menschen wurden glücklicher durch den Gewinn und den Verlust. Nicht sechs Menschen können sich bis heute über die Ursache und die Wirkungen einigen; kurz, niemand, außer denen, die um die Erschlagenen trauerten, hat jemals etwas Genaues davon gewußt. Ernst!« sagte der Doktor lachend. »Eine solche Welt!«

      »Aber mir kommt dies alles ernst genug vor«, sagte Alfred. »Ernst genug«, rief der Doktor. »Wenn Sie solche Dinge als ernst gelten lassen wollen, so müssen Sie wahnsinnig werden oder sterben oder auf einen hohen Berg steigen und Asket werden.«

      »Und dann ist es lange her«, sagte Alfred.

      »Lange her!« entgegnete der Doktor, »wissen Sie, was die Welt seit jener Zeit getrieben hat? Ich weiß es nicht!«

      »Sie hatte ein bißchen prozessiert«, bemerkte Mr. Snitchey und rührte seinen Tee um.

      »Obgleich es den Leuten zu leicht gemacht worden ist«, sagte sein Gefährte.

      »Und mir gestatten Sie bitte, Ihnen zu sagen, Doktor«, fuhr Mr. Snitchey fort, »wiewohl ich es Ihnen schon tausendmal auseinandergesetzt habe, daß ich in der Welt, indem sie prozessiert, und überhaupt in dem Systeme ihres Gerichtswesens etwas wirklich Ernsthaftes, etwas durchaus Reelles erkenne, etwas, was sein Ziel und seinen Zweck hat.«

      Clemency Newcome stieß jetzt an die Tafel, daß alle Teller und Tassen klapperten.

      »Nun, was gibt es denn?« rief der Doktor.

      »Es ist der dumme Aktenstoß«, sagte Clemency, »der einem immer zwischen die Gliedmaßen gerät.«

      »Was sein Ziel und seinen Zweck hat, sagte ich«, wiederholte Snitchey, »etwas, das unsere Achtung verlangt. Das Leben wäre ein Narrenspiel, Doktor Jeddler? Das Leben mit der Gerichtsbarkeit?«

      Der Doktor lachte und sah Alfred an.

      »Zugegeben, daß der Krieg eine Dummheit ist«, sagte Snitchey, »darin stimmen wir überein. Zum Beispiel, hier sehen wir eine entzückende Gegend.« Er deutete mit der Gabel ins Freie. »Ehedem aber war sie bedeckt mit Scharen von Soldaten – jeder einzelne des Landfriedensbruches schuldig – und sie war verwüstet durch Feuer und Schwert. Ha, ha, ha! Nur der Gedanke allein, daß sich ein Mensch aus freien Stücken dem Tod durch Feuer und Schwert ausliefert! Das ist dumm, ist vollkommen lächerlich; man muß die Schultern zucken über seine Mitmenschen, wenn man daran denkt! Aber nehmen wir diese freundliche Gegend, wie sie jetzt ist. Denken wir an die aus dem Grundeigentum entspringenden Rechtsverhältnisse; an die Vererbung und Schenkung des Grundeigentums; an Freipacht, Erbpacht, zeitweise Pacht; denken wir«, sagte Mr. Snitchey mit solcher Hingerissenheit, daß er mit den Lippen schmatzte, »denken wir an die komplizierten Gesetze, die sich auf das Besitzrecht und den Beweis des Besitzrechtes erstrecken, nebst allen sich widersprechenden Präzedenzfällen und Gesetzesakten, die dazu gehören; an die unendliche Fülle von verwickelten und endlosen Kanzleigerichtsprozessen; zu denen diese schöne Serie den Anlaß gibt: – und geben Sie zu, Doktor Jeddler, daß dies eine Oase in der Welt ist! – Ich hoffe«, sagte Mr. Snitchey mit einem Blick auf seinen Kompagnon, »daß ich im Namen der Firma rede, Mr. Craggs.«

      Da Mr. Craggs zustimmte, bemerkte Mr. Snitchey, dessen Appetit durch die Rede gesteigert worden war, »daß er noch eine Scheibe Fleisch und eine Tasse Tee zu sich nehmen wolle«.

      »Ich möchte nicht das Leben im allgemeinen verteidigen«, fügte er hinzu und rieb sich, während er in sich hineinlachte, die Hände; »es ist voller Torheit, voll von noch Schlimmerem. Versicherungen der Treue, des Vertrauens und der Uneigennützigkeit, und Ähnliches. Ach, was! Wir wissen, was sie wert sind. Aber Sie dürfen nicht über das Leben lachen; Sie haben eine Partie zu spielen; eine sehr schwierige Partie! Alle Menschen spielen gegen Sie, und Sie spielen gegen alle Menschen. O, es ist eine recht interessante Geschichte. Es sind raffinierte Züge auf diesem Spielbrett. Sie dürfen nur lachen, Doktor Jeddler, wenn Sie gewinnen; aber auch dann nicht zu laut. Ha, ha, ha! und auch dann nicht zu laut!« wiederholte Snitchey, indem er den Kopf hin und her drehte und das eine Auge zukniff, als wollte er hinzufügen: »Sie können dafür das machen!«

      »Nun, Alfred«, fragte der Doktor, »was sagen Sie dazu?«

      »Ich sage nur«, erwiderte Alfred, »Sie können mir und vermutlich auch sich selbst keinen größeren Gefallen erweisen, als daß Sie manchmal versuchten, dieses Schlachtfeld zu vergessen. Nicht minder aber andere, die Teile dieses großen Schlachtfeldes des Lebens überhaupt sind; eines Schlachtfeldes, das die Sonne täglich bescheint.«

      »Nun, ich fürchte, das würde ihn nicht milder stimmen, Mr. Alfred«, sagte Snitchey. »Die Kämpfer in dieser Lebensschlacht sind sehr grimmig und erbittert gegeneinander. Ganz empörend ist das

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