Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

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glaube, Mr. Snitchey«, sagte Alfred, »daß in dieser Schlacht stille Siege und Kämpfe, große Selbstaufopferung und edle, heldenmütige Taten – selbst in scheinbaren Nichtigkeiten und Widersprüchen – sich ereignen. Sie sind gewiß nicht minder schwer zu vollbringen, weil sie in keiner irdischen Chronik verzeichnet werden, weil kein irdisches Publikum sie sieht; Taten, die jeden Tag in verborgenen Winkeln, in Hütten und in männlichen und weiblichen Herzen geschehen – von denen eine einzige den strengsten Kritiker mit dieser Welt versöhnen und ihn belehren könnte, auf sie zu vertrauen und zu bauen, selbst wenn eine Hälfte ihrer Bewohner im Krieg, und ein Viertel ins Prozessieren verwickelt wäre; und das ist doch noch übertrieben.«

      Beide Schwestern lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit.

      »Na schön!« sagte der Doktor, »ich bin zu alt, um noch bekehrt zu werden, selbst von meinem Freund Snitchey hier, oder von meiner guten Schwester, Martha Jeddler. Sie hat ja ihre Schicksalsprüfungen durchgemacht, wie sie es nennt, und seitdem ist sie mildtätig und voll Erbarmen gegen allerlei Leute geworden. Sie ist auch durchaus Ihrer Meinung (nur ist sie als Frau weniger vernünftig und hartnäckiger), daß wir uns nicht vertragen können und daher selten sehen. Ich bin geboren auf diesem Schlachtfeld. Von Kind auf wandten sich meine Gedanken auf die Geschichte dieses Schlachtfeldes. Sechzig Jahre sind an mir vorübergezogen, und ich habe immer erfahren, daß die ganze christliche Welt, mit wer weiß wie viel zärtlichen Müttern und leidlich braven Töchtern, wie den meinen, sich ganz toll auf dem Schlachtfeld gebärdet hat. Dieselben Widersprüche finden wir allenthalben. Man muß entweder lachen oder weinen über diese absurden Inkonsequenzen; und ich lache lieber darüber.«

      Britain, der jedem einzelnen Sprecher in tiefster Aufmerksamkeit zugehört hatte, schien sich plötzlich der gleichen Ansicht anschließen zu wollen, wofern ein ganz dumpfer, ein tiefster Grabeston, den er von sich gab, für ein Lachen gehalten werden durfte. Sein Gesicht blieb aber dabei so unbewegt, daß, obgleich ein paar der Frühstücksgäste erschreckt von dem unheimlichen Ton sich umwandten, doch niemand auf den Urheber Verdacht warf.

      Ausgenommen die mitbedienende Clemency Newcome versetzte ihm mit einem ihrer Lieblingsgliedmaßen, dem Ellbogen, einen Stoß und fragte ihn mit vorwurfsvollem Lispeln, worüber er lachte.

      »Nicht über Sie!« sagte Britain.

      »Über wen denn?«

      »Über die Menschheit«, sagte Britain. »Das ist ein Spaß.«

      »Wahrhaftig, zwischen dem Herrn und diesen Anwälten wird er mit jedem Tag dümmer!« rief Clemency und gab ihm noch einen Stoß mit dem anderen Ellbogen. »Wissen Sie, wer Sie sind? Wollen Sie an die Luft befördert werden?«

      »Ich weiß gar nichts«, sagte Britain mit leerem Blick und unveränderter Miene. »Ich kümmere mich um nichts. Ich glaube an nichts. Ich strebe nach nichts.«

      Wenn auch vielleicht diese trübe Behauptung in einem Anfall von Melancholie etwas übertrieben war, so hatte doch Benjamin Britain – zuweilen Klein-Britannien genannt zum Unterschied von Großbritannien; wie man von Jung-England spricht, um Alt-England durch Gegensatz zu charakterisieren – seine wahre Geistesverfassung besser gekennzeichnet, als man hätte meinen sollen. Denn da der Arme Tag für Tag den zahllosen Vorträgen zuhörte, die der Doktor über verschiedene Leute ergehen ließ und die alle auf den Beweis hinausliefen, daß sogar seine Existenz im besten Falle ein Irrtum und eine Groteske sei, so war er schließlich in einen solchen Abgrund verwirrter und sich widersprechender Vorstellungen, die ihn von außen und von innen bedrängten, geraten, daß die brunnentiefe Wahrheit im Vergleich mit Britains geistig tiefer Verdunkelung sich noch hoch oben auf flacher Erde befand. Das einzige, was er wirklich einsah, war, daß das neue Element, das Snitchey und Craggs gewöhnlich in diese Diskussionen brachten, diese nur unverständlicher machte, und daß dies für den Doktor stets eine Art Vorteil und Bestätigung darzustellen schien. Darum betrachtete er die beiden Anwälte als Miturheber seines Gemütszustandes und verabscheute sie tief innerlich.

      »Aber damit haben wir jetzt nichts zu tun, Alfred«, sagte der Doktor. »Sie hören heute auf, mein Mündel zu sein, und verlassen uns, ausgerüstet mit dem, was Ihnen die lateinische Schule und Ihre Studien in London und ein alter einfacher Landdoktor, wie ich, lehren konnten, um in die Welt zu treten. Der erste Abschnitt Ihrer von Ihrem seligen Vater festgesetzten Probezeit ist nun vorüber. Sie gehen entsprechend seinem zweiten Wunsch als Ihr eigener Herr in die Welt hinaus, und lange, bevor Ihr dreijähriger Aufenthalt auf den ärztlichen Schulen des Auslands beendet ist, werden Sie uns vergessen haben. Beim Himmel, Sie werden uns binnen einem halben Jahr vergessen!«

      »Wenn ich das tue – aber Sie wissen es ja besser: warum sollte ich mit Ihnen streiten?« sagte Alfred lachend.

      »Ich weiß gar nichts Derartiges«, erwiderte der Doktor. »Was meinst Du dazu, Marion?«

      Marion, mit ihrer Tasse spielend, schien zu sagen – aber sie sagte es nicht – daß er sie nur immer vergessen möge, wenn er es könne. Grace schmiegte ihr schönes Gesicht an Marions Wangen und lächelte.

      »Ich bin, wie ich hoffe, nicht ein sehr ungerechter Verwalter des mir anvertrauten Gutes gewesen«, sprach der Doktor weiter: »aber jedenfalls muß ich heute meines Amtes offiziell enthoben und aus ihm entlassen werden; und hier sind unsere guten Freunde Snitchey und Craggs mit einem ganzen Stoß von Papieren, Rechnungen und Dokumenten über das Vermögen, das ich Ihnen zu übertragen habe (ich wollte, es wäre erheblicher, Alfred, aber Sie müssen ein tüchtiger Mann werden und es vergrößern), und anderem törichten Kram dieser Art. Der ist nur zu unterzeichnen, zu siegeln und zu übergeben.«

      »Und rechtskräftig zu bestätigen, wie es das Gesetz vorschreibt«, sagte Snitchey. Er schob seinen Teller beiseite, holte die Papiere hervor, die sein Sozius auf dem Tische ausbreitete, und fuhr fort: »Da ich und Craggs gemeinschaftlich mit Ihnen, Doktor, Verwalter des Vermögens waren, so werden uns Ihre beiden Hausangestellten als Zeugen dienen – können Sie lesen, Mrs. Newcome?«

      »Ich bin nicht verheiratet, mein Herr«, sagte Clemency.

      »Ach, Verzeihung. Ich konnte mir dies denken«, sagte Snitchey lächelnd und betrachtete zugleich die wunderliche Erscheinung. »Sie können lesen?«

      »Ein bißchen«, erwiderte Clemency.

      »Sie lesen wohl am liebsten, von früh bis abends, das Verheiratungsformular, nicht wahr?« bemerkte scherzend der Anwalt.

      »Nein«, sagte Clemency. »Zu schwer. Ich lese nur den Fingerhut.«

      »Den Fingerhut?« wiederholte Snitchey. »Was soll das bedeuten?«

      Clemency nickte und sagte: »Und das Muskatsieb«.

      »Sie ist verrückt! Etwas für den Lord Oberkanzler!« sagte Snitchey und fixierte sie.

      »Wenn sie Vermögen besitzt«, bemerkte Craggs.

      Jetzt mischte sich aber Grace dazwischen und erklärte ihnen, daß auf die beiden genannten Gegenstände ein Motto geschrieben sei, und daß sie auf diese Weise die Taschenbibliothek Clemencys bildeten, die sich mit Büchern nicht viel abgab.

      »Ach, das bedeutet es, Miß Grace!« sagte Snitchey. »Ja, ja. Ha, ha, ha! ich dachte, das gute Mädchen wäre im Verstand nicht richtig. Sie sieht ganz danach aus«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Was aber steht auf dem Fingerhut, Mrs. Newcome?«

      »Ich bin nicht verheiratet, Mister«, bemerkte Clemency.

      »Na, dann nur Newcome. Wird das passen?« sagte der Anwalt. »Was steht auf dem Fingerhut, Newcome?«

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