Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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»Mein Gott, Mr. Warden!« rief der Advokat und zog ihn beiseite, »was für ein Wind«, er war so erschöpft, daß er pausieren mußte und erst nach einer Weile ganz schwach fortfuhr, »hat Sie hierher geführt?«
»Ein schlimmer, fürchte ich«, antwortete er. »Wenn Sie hätten hören können, was hier eben geschah – wie ich Unmögliches tun soll – wie ich Betrübnis und Herzeleid mitbringe!«
»Ich kann alles begreifen. Aber warum sind Sie gerade hierher gekommen?« sagte Snitchey.
»Weshalb sollte ich nicht! Wie konnte ich wissen, wer hier Wirt ist? Als ich meinen Diener zu Ihnen schickte, ging ich hier herein, weil mir das Haus neu war. Ich hatte ein begreifliches Interesse für alles Neue und Alte in dieser Umgebung von einst. Außerdem aber wollte ich vor der Stadt erst einmal mit Ihnen zusammentreffen. Ich wollte wissen, was die Leute über mich reden. Ich sehe es an Ihrer Haltung, daß Sie es mir sagen können. Wäre Ihre verwünschte Vorsicht nicht gewesen, dann hätte ich längst alles erfahren können.«
»Unsere Vorsicht!« rief der Advokat aus. »Im Namen meiner selbst und Craggs’ – selig«, hier blickte er auf den Flor an seinem Hut und schüttelte den Kopf, »zu Ihnen gesprochen, Mr. Warden, wie können Sie uns klugermaßen eine Schuld zuschreiben? Wir einigten uns, diese Angelegenheit nicht wieder zu berühren, da es keine Sache war, in die sich so würdige und gesetzte Männer wie wir (ich notierte mir Ihre damaligen Bemerkungen) mischen dürften. Unsere Vorsicht! während Mr. Craggs in sein ehrenwertes Grab stieg in dem Glauben –«
»Ich hatte feierlich versprochen, zu schweigen, bis ich zurückkehren würde, wie lange dies auch immer dauern möchte«, unterbrach ihn Mr. Warden; »und ich habe das Versprechen gehalten.«
»Gut, Herr, und ich wiederhole es, wir waren gleichfalls zum Schweigen verpflichtet. Dazu zwang uns unsere Verpflichtung gegen uns selbst und gegen verschiedene Klienten, unter denen auch Sie waren. Es war nicht unsere Sache, Sie über eine so persönliche Angelegenheit auszuforschen; ich hatte meine Befürchtung, Herr; aber erst seit sechs Monaten habe ich die Wahrheit erfahren.«
»Durch wen?« fragte sein Klient.
»Durch Doktor Jeddler selbst, Herr, der mir freiwillig sein Vertrauen schenkte. Er, und nur er, hat um die ganze Wahrheit seit mehreren Jahren gewußt.«
»Und Sie wissen sie auch?« sagte sein Klient.
»Ja, Herr!« erwiderte Snitchey, »und ich habe auch allen Anlaß, anzunehmen, daß ihre Schwester sie morgen abend hören wird. Unterdessen werden Sie mir hoffentlich die Ehre erweisen, Gast in meinem Hause zu sein, da man Sie bei den Ihren nicht erwartet hat. Doch um etwaigen weitern Verlegenheiten vorzubeugen, für den Fall, daß man Sie erkennen sollte – ist es besser, wir essen hier und gehen abends nach der Stadt. Man speist hier recht gut, Mr. Warden; das Haus ist übrigens das Ihre. Ich und Craggs (selig) aßen hier oft ein Kotelett und fanden es immer delikat. Mr. Craggs, mein Herr«, sagte Snitchey und schloß die Augen fast für einen Augenblick, um sie dann wieder zu öffnen, »wurde zu früh aus dem Buche der Lebendigen gelöscht.«
»Der Himmel vergebe es mir, daß ich Ihnen nicht mein Beileid sagte«, versetzte Michael Warden und fuhr mit der Hand über die Stirn; »aber mir ist es, als ob ich träumte. Es ist mir, als wäre ich nicht ganz bei Bewußtsein. Mr. Craggs, – ja – ich bedauere es sehr, daß wir Mr. Craggs verloren haben.« Aber er blickte, indem er so sprach, auf Clemency und schien mit Ben, der sie tröstete, Sympathie zu fühlen.
»Mr. Craggs, Sir«, entgegnete Snitchey, »erfuhr, was ich zu meinem Leidwesen bekennen muß, daß das Leben nicht zu leicht zu behalten war, wie es ihm seine Theorie sagte, sonst würde er noch unter uns verweilen. Es ist ein herber Verlust für mich. Mr. Craggs war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, mein rechtes Auge. Ich komme mir ohne ihn wie ein Lahmer vor. Er vermachte seinen Geschäftsanteil der Mrs. Craggs, den Testamentsvollstreckern, Sachwaltern und Kuratoren. Sein Name steht noch heute im Schild der Firma. Manchmal versuche ich wie ein Kind, mich in den Glauben einzuwiegen, als lebe er noch. Ich sage immer wieder: Snitchey allein und Craggs – selig, mein Herr, – selig«, sagte der gefühlvolle Anwalt und zog ein Taschentuch hervor.
Michael Warden, der Clemency noch immer ansah, wandte sich zu Snitchey, als dieser aufhörte zu reden, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ach, die arme Frau!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf, »Ja. Sie hing immer sehr an Marion. Schöne Marion! Arme Marion! Aber Kopf hoch, liebe Frau – Sie sind ja jetzt verheiratet, Clemency.«
Clemency seufzte nur und schüttelte das Haupt.
»Nur Geduld bis morgen«, sagte der Advokat voll Güte.
»Das Morgen macht die Toten nicht lebendig, Herr«, sagte Clemency schluchzend.
»Dies freilich nicht, sonst würde es auch Mr. Craggs, selig, wieder lebendig machen«, erwiderte der Anwalt. »Jedoch Trost kann es bringen. Geduld bis morgen.«
Clemency schüttelte die hingestreckte Hand und versprach sich zu beruhigen. Britain aber, der beim Anblick seiner kummervollen Gattin (es war gerade, als lasse das ganze Geschäft den Kopf hängen) ganz niedergeschlagen worden war, erklärte, so sei es richtig. Mr. Snitchey und Michael Warden gingen hinauf und waren droben alsbald in eine so vorsichtig gehaltene Unterredung vertieft, daß durch das Klirren der Teller und Schüsseln, das Zischen der Pfannen, das Prutzeln in den Kasserollen, das gleichförmige Schnurren des Bratspießrades – das von Zeit zu Zeit schrecklich gluckste, als sei ihm in einem Anfall von Schwindel etwas zugestoßen – und die andern Vorbereitungen zu ihrem Diner in der Küche auch kein Wörtchen hörbar ward.
Der folgende Tag war schön und heiter, und nirgends sah die herbstlich gefärbte Landschaft schöner aus, als von des Doktors freundlichem Obstgarten her. Der Schnee vieler Winternächte war hier zerronnen, die welken Blätter manches Sommers hatten hier geraschelt, seitdem sie geflüchtet war. Die Jelängerjelieber-Laube war wieder grün, die Bäume warfen schöne wechselnde Schatten auf den Rasen; die Landschaft war so heiter ruhig, wie sie nur sein konnte. Wo aber war sie?
Nicht hier. Nicht dort. Sie wäre jetzt ein seltsamer Anblick in dem alten Haus gewesen, seltsamer selbst, als anfangs das Haus ohne sie. Aber an ihrem gewohnten Platz saß eine Dame, aus deren Herzen sie nie entschwunden war; in deren treuer Erinnerung sie fortlebte, unverändert, im vollen Glanz ihrer Jugend und Schönheit; in deren Liebe – und es war nur die Liebe einer Mutter: eine geliebte kleine Tochter spielte neben ihr – sie keine Nebenbuhlerin, keine Nachfolgerin hatte und auf deren zarten Lippen ihr Name jetzt hauchte.
Der Geist der entschwundenen Jungfrau schaute aus diesen Augen; aus diesen Augen Graces, ihrer Schwester, wie sie mit dem Gatten an ihrem Hochzeitstag und Marions Geburtstag im Obstgarten saß.
Er hatte es zu keinem berühmten Namen gebracht, hatte auch keine Reichtümer gesammelt, hatte aber die Umwelt und die Freunde seiner Jugend nicht vergessen; er hatte keine von des Doktors Voraussagungen erfüllt. Aber bei seinen stillen und wohltuenden Besuchen in niedern Hütten; bei seinen Nachtwachen am Krankenlager und bei seiner täglichen Erkenntnis des vielen Schönen und Guten, das auf den Seitenwegen des Lebens blüht und nicht niedergetreten wird von dem schweren Fuß der Armut, sondern kräftig emporsprießt in ihren Spuren, hatte er von Jahr zu Jahr die Wahrheit seines alten Glaubens besser gelernt und bewiesen. Seine Lebenshaltung, so ruhig und bescheiden sie auch war, hatte ihm bewiesen, wie oft sich noch immer Engel der Menschen annehmen, wie in alter Urzeit; und wie oft die unscheinbaren Gestalten – selbst manche, die dem Äußern nach gewöhnlich und häßlich erscheinen und in Lumpen gekleidet sind