Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band) - Joachim  Ringelnatz

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befahl und niemals wieder Kleider anlegte. Das Volk hingegen bekleidete sich mit hölzernen Rüstungen und Schuhen, denn Metall war ihm unbekannt, griff zu hölzernen Waffen und schiffte sich auf hölzernen Barken ein. Der König nahm heimlich die halbe Pastete mit.

      Damals gab es außer und nahe dem geographischen Südpol noch einen holznetischen Südpol, der die Eigentümlichkeit besaß, alles Hölzerne anzuziehen. Daß die Quelle dieser Wunderkraft letzten Endes in einem Pudding bestand, wußte nur Stahlhaupt, der harte, grausameKönig der Holzeren. Er hatte den Pudding gekocht und wußte ihn im Geheimgarten, unter einem Riesenberg von angezogenen Holzgeräten verwahrt. Ruder, Bootsplanken, Spindeln, Pfahlbauten, Särge, Quirle, Bleistifte.

      König Stahlhaupt lief sein Leben lang immer nackt herum. Er haßte Weichlinge und Schlappschwänze, und wenn je Fremdlinge von derartiger Charakterbeschaffenheit sich ihm oder seinem Lande näherten, so reizte er sie durch Beleidigungen und stellte sich gleichzeitig ängstlich, unsicher, bis die Gekränkten ihn angriffen. Dann, weiterreizend, floh er zum Schein, ließ sich sogar etwas verprügeln, um ihre Tapferkeit noch weiter anzuspornen. Bis er sie schließlich aus Notwehr totschlagen mußte.

      Ein historischer Funkspruch traf ein. Die Holzeren betranken sich mit Wimmhubs, ihrem schmackhaften, aus Pinguinbutter und Soda hergestellten Nationallikör. Dann legten die Untertanen Stahlpanzer an und bestiegen eiserne Schiffe, denn Holz war ihnen ein unbekanntes Mineral; und der nackte Stahlhaupt folgte ihnen und trug heimlich den Pudding in der Hand.

      Ob es anno 4680 war, also in dem Jahre, von dem der Vikinger Historiker Wlehd erzählt, daß es durch eine ungeheure magnetische Deviation alle nautischen Berechnungen über den Haufen warf. Oder später? Sicher ist nur, daß auf dem Meere, welches damals die Gegend des heutigen Rastenburg bedeckte, die beiden Flotten einander in Sicht kamen.

      Da geschah sofort etwas Unerhörtes, Einzigartiges. König Stahlhaupt war, der besseren Übersicht wegen, mit seinem Schiff etwas hinter den anderen zurückgeblieben. König Holzkopp andererseits stand, die halbe Pastete in Händen, auf seinem Flaggschiff und hatte aus kriegerischer Bescheidenheit den anderen Schiffen einen gewissen Vorsprung gelassen. Plötzlich sahen beide Könige ihre Flotten in rasender Geschwindigkeit dem Feinde zufliegen und fühlten beide gleichzeitig, wie ihr eigenes Schiff ihnen unter den Füßen wegglitt. Eine Tausendstel Sekunde später war folgende Situation perfekt: König Stahlhaupt stand von lauter holzgepanzerten Eheren umringt auf einem der dicht aneinander gepreßten Holzschiffe. König Holzkopp hingegen befand sich auf der eisernen Flotte von lauter Holzeren umringt. Erst jubelten beide Völker über den gefangenen König, dann trauerten sie über den verlorenen König, dann entdeckten beide Völker das Ausgleichende ihres Schicksals und verabredeten funkentelegraphisch einen Königsaustausch. Auf ein bestimmtes Signal hin sollten beide Parteien ihren Gefangenen in einem Ruderboot entlassen, ohne zu folgen. Beide Völker brachen aber diese Verabredung nachher, indem beide den entlassenen Gefangenen mit sämtlichen Schiffen folgten. Ob dieser beiderseitigen Niedertracht wurde der Waffenstillstand abgebrochen. Die Seeschlacht sollte beginnen. Da die königlichen Gefangenen selbstverständlich nicht daran teilnehmen konnten, sondern überwacht zurückbleiben mußten, ergab sich ein merkwürdiger Beweis für die Hilflosigkeit führerloser Streitkräfte. Beide Flotten gingen nicht vor. Sie beschimpften sich nur aus der Entfernung gegenseitig per Funkentelegraphie. Als aber die Vorräte zur Neige gingen, kam Unzufriedenheit auf. Bald war man hüben und drüben auf Friedensverhandlungen erpicht.

      Die Eheren sandten den Holzeren zehn Tonnen Mihinka. Die Holzeren sandten den Eheren fünf Tonnen Wimmhubs. Danach vereinigten sich die beiden Flotten. Die Könige küßten sich. Und alle betranken sich und betrugen sich so laut und rüpelhaft, daß ein noch nie dagewesener Seesturm losbrach, wobei sämtliche Eisenschiffe mit den Holzeren samt König Stahlhaupt und dem Pudding untergingen.

      Die Eheren aber retteten sich auf ihren kieloberst treibenden Fahrzeugen nach ihrer südöstwestlich vom geographischen Nordpol gelegenen Heimat.

      Vom Zwiebelzahl

       Inhaltsverzeichnis

      Herr Tretebalg war von Beruf polizeilich verfolgter Wunderarzt, Naturarzt, Dentist; wie man’s nehmen wollte. Von Zähnen und Hühneraugen abgesehen, gab es Hunderte von Geheilten, die seine Magie priesen. Den Glaser Lobesand hatte er von der Gallenpest befreit, einfach dadurch, daß er ihm zweimal mit einem Pferdeknochen über den Bauch strich und dabei sagte: »Lache mal!« Fertig: Gelacht – gesund.

      Fachleute, wie Dr. Quilippi, nannten Tretebalgen einen fatalen Quacksalber.

      Das Fernrohr in der Hand des fatalen Quacksalbers zitterte. Wahrhaftig: drüben im Garten war eine kleine, aber festliche Tafel gedeckt, deutlich für zwei Personen. Tretebalg stand schon im Frack bereit. Aber nein. Nein, nein! Er wollte doch noch absagen. Mit einem Menschen zusammen essen, der – der – wenn auch nicht –, aber schon dieses ewige Gelehrte, dieses Austüfteln! Dieser verknöcherte Aktenstaub, dieser muffige nichts wie Bücherkram! Tretebalg legte noch einmal das Fernrohr über die Brüstung. Ja, dort oben saß er! Der gebildete, gelehrte Herr Dr. Quilippi; nur ein Stück krummen Rückens sah man, aber dieser Rücken schnüffelte ohne Zweifel wiedermit seiner blutlosen Nase in blödsinnigen, stinkigen Schmökern herum, lernte jetzt, eine Stunde vor dem Festessen, allerlei veraltetes, verbohrtes Gewäsch auswendig, womit er dem andern Eindruck machen würde, klaubte sich vielleicht spitzfindige, hinterlistige, schuftige Fremdwörter zusammen, um – um den Quacksalber, den fatalen Quacksalber in Verlegenheit – – »Huach!« Ein Ausstoß, fast Kreischen. Das Fernrohr entrollte. Erst über die Brüstung und, als Herr Tretebalg zugriff, schnell in die Tiefe. »Hüukschä!« Das gab den Rest. Tretebalg hatte auf einmal einen Revolver in der Hand, legte nach drüben zu auf den krummen Rücken an und feuerte einen Schuß ab. Dann fiel er steif rücklings um. Ins Zimmer. Auf einen Teppich.

      Der Naturarzt hatte meisterhaft gezielt. Der Berggeist Zwiebelzahl flog gerade unsichtbar vorbei. Er kam von einem überirdischen Billardspiel, und da ihm der Schuß natürlich nicht entging, machte er sich einen Scherz daraus, der fliegenden Kugel durch einen ebenso geschickten wie heftigen Stoß mit dem unsichtbaren Billardqueue ein wohlberechnetes Effet zu geben. Derart, daß sie rechts ab einmal um den Erdball herumsausen und erst dann wieder ihre alte Richtung aufnehmen mußte.

      Tretebalg hatte den Doktor erschossen, der ihn – als Einzigen – zum fünfzigjährigen Geburtstagsschmause einlud. An dieser Tatsache kaute der Wunderarzt nun herum, wie ein junger Hund an seiner Speckschwarte. Er versuchte sie zu verschlucken; sie kam immer wieder hervor. Wie er sie auch anpackte, sie blieb, was sie war.

      Herr Tretebalg erhob sich grau verstört, wankte nach dem Nachbarhause hinüber, verzweifelt entschlossen,nun die Rolle des Harmlosen, Überraschten, Entsetzten zu spielen. Welche Rolle!

      Irgendwer führte ihn nach oben, öffnete die Tür zum Arbeitszimmer des Doktors. Tretebalg trat ein.

      Aber nicht so wie ein Blitz aus heiterem Himmel oder wie von der Tarantel gestochen, sondern gerade umgekehrt anders traf ihn der Anblick des ihm lächelnd entgegenschreitenden Doktors.

      »Herzlich willkommen, mein bester amicus Tretebalg.«

      »Leben Sie denn noch?« entfuhr es Herrn Tretebalg aus tiefstem Innern.

      »Wie beliebt?« fragte der Doktor zerstreut und sah ernst nach der Uhr.

      »Gottlob, danebengetroffen!« Tretebalg stammelte dankbar selig verwirrt. »Nichts, nichts! – Ich meine – ich dachte, Sie wären t-o-t.«

      »Daß ich nicht wüßte«, bemerkte Herr Doktor Quilippi verbindlich. Tretebalg kam zu sich. »Meinen herzlichsten, allerherzlichsten

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