Der Prinz und die Tänzerin. Barbara Cartland
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Wie so oft, wenn sie allein waren, sprachen sie über Themen, die viele ihrer Bekannten erstaunt haben würden: Philosophie, Literatur, Politik. Beide waren sehr belesen und diskussionsgewandt.
Als sie gegessen hatten, änderte sich die Laune des Prinzen mit einer Schlagartigkeit, die typisch für ihn war.
„So, Hugo“, sagte er. „Schluß mit dem ernsten Gespräch. Wo führst du mich jetzt hin?“
„Du wirst es nicht für möglich halten“, entgegnete Lord Marston. „Zu Aschenputtel.“
„Aschenputtel?“ wiederholte der Prinz, der seinen Ohren nicht traute.
„Ja. Im Theâtre Imperial du Châtelet.“
„Meinst du nicht, ich bin etwas zu alt für ein Märchen?“
„Nicht für dieses, Iwan.“
„Ich warne dich. Wenn ich mich langweile, gehe ich.“
„Du kannst die Höhe der Wette bestimmen, daß es nicht der Fall sein wird.“
„Also, meinetwegen. “
Sie verließen das Restaurant und gingen zur Kutsche des Prinzen. Die Aprilluft war warm und mild.
Sie fuhren über die Boulevards mit den hellerleuchteten Cafés zu beiden Seiten. Auf den breiten Gehsteigen flanierten Menschen im goldenen Schein der Gaslaternen.
Obwohl die Vorstellung schon vor einer knappen Stunde begonnen hatte, stand immer noch eine beachtliche Schlange vor der Kasse des Theaters.
„Ist Paris in seine Kindheit zurückgefallen?“ fragte der Prinz spöttisch.
„Es handelt sich hier um kein gewöhnliches Märchen“, berichtete Lord Marston. „Das Stück hat fünf Akte und dreißig Szenen.“
„Oh Gott!“ stöhnte der Prinz.
„Aufwendige Inszenierungen sind typisch für das zeitgenössische Theater“, sagte Lord Marston in leicht schulmeisterlichem Ton. „Du wirst erstaunt sein, was du alles zu sehen bekommst: die Grüne Grotte, den Feuerberg, den Silbersee, den Palast der Glühwürmchen und goldene Wolken, nur um ein paar Beispiele zu nennen.“
Sie kamen gerade in die erste Pause hinein. Menschen strömten in das Foyer, die Herren versuchten, einen Drink zu ergattern, das Stimmengewirr war ohrenbetäubend.
Lord Marston hatte die Proszeniumsloge gemietet. Als sie Platz nahmen, richteten junge Männer mit tief geschnittenen Frackschößen und Gardenien in den Knopflöchern die Operngläser auf sie.
Damen nickten lächelnd und winkten mit schmalen, blassen Händen. Der Prinz verbeugte sich nach allen Seiten.
„Morgen wird es Einladungen regnen“, bemerkte Lord Marston trocken.
Der Prinz ließ den Blick durch das Rund des Theaters schweifen.
„Du kannst Gift darauf nehmen, Hugo“, sagte er, „daß ich sehr wählerisch sein werde.“
Es klingelte, die Pause war zu Ende und das Publikum kehrte zu seinen Sitzen zurück. Das Stimmengewirr verstummte allmählich und der rote Samtvorhang ging auf.
Das Bühnenbild zeigte den Feuerberg. Zwerge liefen geschäftig auf rotglühenden Felsen hin und her. Am Fuße des Berges lag der Silbersee, dessen Wellen immer höher wurden. In seinen kühlen Wogen schwammen nackte Nymphen.
Das Bild war so phantastisch, daß das Publikum in Begeisterungsstürme ausbrach. Sogar der Prinz war zutiefst beeindruckt.
Nach einem Chor der Zwerge und einer Arie des schönen Prinzen war die Bühne plötzlich in Finsternis getaucht und zwei Spaßmacher traten auf, deren derbe Witze das Publikum zu Lachsalven veranlaßte.
Das Interesse des Prinzen begann zu schwinden. Er betrachtete sich die Herrschaften in den Logen.
Die Spaßmacher verschwanden leise, sanfte Töne erklangen aus dem Orchester.
„Deshalb habe ich dich hierhergeführt“, flüsterte Lord Marston.
Der Prinz sah wieder zur Bühne. Der Vorhang ging langsam auf, der Feuerberg und der Silbersee waren verschwunden. Nur noch dunkle Tücher hingen vom Schnürboden, Tücher, die in Schatten überzugehen schienen.
Und dann tauchte eine Tänzerin auf.
So eine Ballerina hatte der Prinz in seinem Leben noch nicht gesehen. An das strenge russische Ballett mit den stark geschminkten Tänzerinnen gewöhnt, glaubte er, plötzlich in eine andere Welt versetzt zu sein.
Das Mädchen auf der Bühne trug ein weißes Seidengewand, das an eine griechische Toga erinnerte. Sein Haar war schlicht aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zusammengebunden. Es war nicht geschminkt. Seine bloßen Füße steckten nicht etwa in Ballettschuhen, sondern in flachen Sandalen.
Das Mädchen stand einen Moment reglos auf der Bühne, dann begann es zu tanzen.
Es war Tanz und gleichzeitig Pantomime, die eine Geschichte erzählte, die so einfach und so fabelhaft nachvollzogen war, daß jeder sie verstehen mußte.
Ein glückliches, sorgloses Kind, das Blumen, Schmetterlinge und Vögel liebte, die man förmlich vor Augen hatte, wenn sie die schlanken Arme danach ausstreckte. Jede Bewegung, jede Geste war so zart, so verhalten und anmutig, daß es dem Publikum den Atem verschlug und kein Laut zu hören war.
Das Mädchen verkörperte die Freude, das Jungsein, die Unschuld. Es war die Schönheit schlechthin und schien das Glück in den Armen zu halten.
Der Vorhang fiel und einen Moment lang war es noch totenstill. Und dann brach donnernder Applaus los.
„Sie ist großartig!“ rief der Prinz. „Wer ist sie?“
„Sie heißt Lokita“, antwortete Lord Marston.
Als das Orchester wieder einsetzte - diesmal mit schweren, trauervollen Tönen - und sich der Vorhang erneut hob, verstummte alles.
Wieder stand Lokita auf der Bühne, diesmal in einen schwarzen Umhang gehüllt. Sie hielt einen Blumenkranz in der Hand.
Noch bewegte sie sich nicht, aber in ihrer Pose lag etwas, was jedem Zuschauer das Herz schwer machte.
Schließlich kam sie nach vorn, legte den Kranz auf das Grab eines Menschen, den sie geliebt hatte, und senkte den Kopf. Was sie verloren hatte, war unersetzlich. Ein Teil ihrer selbst war dahingegangen und sie schien an der Welt, in der sie lebte, nicht mehr teilzuhaben.
Das Mädchen weinte, und die Damen im Publikum weinten mit ihr. Die Verzweiflung zog Lokita zu Boden. Sie sank neben dem Grab nieder, als wolle auch sie sterben.
Doch plötzlich ertönte eine Flöte, eine hoffnungsvolle Melodie löste sich aus dem unheilvollen Klangkörper, Lokita hob den Kopf, wandte das tränenüberströmte Gesicht dem Publikum zu und stand so langsam auf, daß es fast schmerzte, ihr zuzusehen.
Das Wissen darum, daß Leben stärker war als Tod, erfüllte alle.