Expedition Antarctica. Evelyne Binsack
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Ich hätte auf Nebenstraßen ausweichen und im Zickzack aufkreuzen können, wie einst die Segelschiffe, doch das kann die Länge mancher Strecke gut und gerne verdoppeln. Wollte ich den ganzen Winter durch strampeln? Lieber nicht. Überdies hatte ich Hunger. Nach Stunden unterwegs – Pause. Ich setzte mich an die Böschung und aß eine Banane. Als ich die Brille ablegte, fiel der Blick auf ein Blümchen. Es war vom gleichen Bananengelb, aber unscheinbar klein, und jedes Mal, wenn ein Truck vorbeidonnerte, wuschsch, drückte ein Luftstoß das wehrlose Geschöpfchen zu Boden. Dann kam es wieder hoch, rein und schön wie zuvor, immer aufs Neue. Ich bedauerte das Blümchen wegen seines Standplatzes und weil es keine Beine hatte wie ich, um von hier zu flüchten. Als Nächstes überlegte ich mir, dass es einer kostbaren Demut bedarf, sich den täglichen Demütigungen zu stellen und trotzdem derart als Blume leuchten zu können. Kaum ein Mensch vor mir hat dieses Blümchen wahrgenommen, kein Mensch ihm gesagt, wie schön es sei. Trotzdem gibt es sein Bestes und blüht, solange ihm die Zeit gegönnt ist.
»Evelyne«, sagte ich unversehens zu mir, »wenn du jetzt nicht in Sentimentalitäten versumpfen willst, nimmst du dir das Blümchen zum Vorbild.« Magst du noch so übersehen, missachtet und mit Dreck eingedeckt werden: Machs wie das Blümchen. Komm wieder hoch. Jedes Mal, wenn es dich umhaut, stehst du wieder auf. Das Blümchen lehrte mich, dass Demut nicht bedeutet, gesenkten Hauptes durch das Leben zu wandeln, sondern dass sie es ermöglicht, die Egozentrik zu regulieren und zu akzeptieren, dass große Ziele immer auch Verzicht verlangen. Das ist die Lektion des gelben Blümchens, die ich meiner Krise an der Böschung am Fuß der Pyrenäen verdanke.
Die Botschaft der Zufälle
Bald nach der Grenze in Spanien wurde ich krank. Eine Grippe oder so was. Mitten auf der Fahrt erwischte sie mich. Ich weiß nicht mehr, wo. Aber ich sehe vor mir noch das Tal. Ein langes, einsames Tal, und dort, wo es sich öffnete, verschlossen Wolken den Ausgang. Schwarz und schwefelgelb. Schon wieder Regen? Nein, das sah nach Hagel aus. Nicht auch das noch, bitte, bitte, nicht! Wie weit war es noch bis zum nächsten Dorf? Ob ich es trocken erreichte?
Vielleicht war es zu weit bis zum Dorf, oder ich fuhr zu langsam. Es fehlten nur ein paar Hundert Meter. Bis ich die ersten Häuser erreichte, war ich nass bis auf die Knochen und gepiekst vom niederprasselnden Hagel. Vor allem die Hagelschläge empfand ich als gemeine Schikane. Ich heulte auf und rief den lieben Gott an, er möge sich meiner erbarmen. Bei einer Bushaltestelle fand ich Unterstand. Wenigstens Trockenheit. Aber die Kleider wechseln, wozu? Sie würden gleich wieder nass. Und ich hatte nur ein trockenes Set dabei. Es war Oktober und kalt, und hier konnte ich nicht übernachten. Das Dorf schien ausgestorben, das nächste unendlich weit entfernt. Nach einer Weile setzte sich ein alter Mann auf meine Bank. Er trug eine Windjacke. Die hätte ich zu gerne gehabt, um meine Gänsehaut zu bedecken. Vielleicht kannte der Mann eine Herberge. Ich fragte ihn. Er hörte schlecht und sagte lange nichts. Ob er nachdachte oder ob er nichts dachte, war ihm nicht anzusehen. Er schob bloß langsam seinen Kiefer hin und her. Ich hatte ihn schon fast aufgegeben, da mummelte er: »Da oben wohnt ein Holländer mit seiner Frau. Einer Französin. Die haben ein Hotel. Geh diese Straße rauf bis zu einem braunen Tor. Geh daran vorbei und bieg dann rechts ab. Bis zu einem weiteren Tor. Geh hindurch in den Innenhof und frag dort, ob du übernachten kannst.«
Es klang wie im Märchen, das Männchen mit seinem zahnlosen Mund, diese Tore, die wie Prüfungen auf einem Lebensweg stehen. Als ich mich hochgeschleppt hatte, klopfte ich. Die Frau war entzückt. Sie hatte ihr Haus eben erst für Gäste geöffnet. Ich war ihr erster Gast. Sie schloss mir ihr bestes Zimmer auf und verwöhnte mich wie eine Prinzessin. Es gab eine Dusche mit zwölf Düsen in einer Oase von Luxus und Wohlstand.
In dieser märchenhaften Stimmung spürte ich es wieder. Wir sind begleitet. Es gibt diese Zufälle, fast immer, die einem ganz einfach zufallen. Solche Zufälle haben meinen Glauben an eine Kraft, von welcher uns als Kind gelehrt wurde, dass sie Gott heißt, im Laufe meines Lebens vertieft. Nennen wir diese Zufälle mal einfach Giuseppe. Hinter diesen Erlebnissen steckt eine Botschaft. Giuseppe sendet solche Botschaften. Sie sprechen für sich. Man braucht sie nicht aufzuschreiben und man erinnert sich doch. Ein Leben lang.
La Peregrina
Fast unvermeidlich führte mich das Netz der Straßen in Spanien auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Ich wurde Pilgerin. Peregrina. Für andere Jakobs-Pilger bedeutet Santiago das Ziel. Für mich war es nur eine Etappe. Dort, so dachte ich, hole ich den Segen für meine weitere Reise. Nicht, dass ich fromm wäre in einem kirchlichen Sinn. Aber ich mache mich nie auf den Weg ohne die Verbindung, die sich im Glauben äußert.
Zaragoza, Logroño, Burgos, León … Durchs Weingebiet des Rioja, durch die erbarmungslos kahle Hochebene der Meseta und über den nicht enden wollenden lärmigen Highway in Galicien näherte ich mich dem Ziel, das Millionen von Pilgerinnen und Pilgern seit dem Mittelalter über diese Straßen anzieht. Es ist ein Sog, dem sich kaum jemand entzieht, der davon einmal erfasst ist.
Unwiderstehlich, von weit her sichtbar, ragten die Doppeltürme der Kathedrale auf dem Stadthügel mächtig in den atlantischen Himmel, aus dem so oft die ganze Nässe des Meeres abregnet; und jetzt, an diesem Sonntagnachmittag, als die Verheißung dieses besonderen Ortes schon fast mit Händen zu greifen war, rissen die Wolken auf. Eine kleine Offenbarung.
Müde, verschwitzt und verstaubt wie jeder Pilger hielt ich Einzug auf dem prächtigen, barocken Platz vor der Kathedrale, auf dem die Besucher wie Bühnenhelden im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sitzen, singen, beten und den Neuankömmlingen vorspielen, wie es sich fühlt, angekommen zu sein.
Lebensabschnitte soll man feiern. Wie alle Pilger suchte ich Schutz und Zuspruch unter den schweren, kerzenrauchgeschwärzten Gewölben der Kathedrale. So wie es sich von alters her gehört, schritt ich um den heiligen Jakobus herum, um ihn von hinten zu umarmen. Und abends besuchte ich die Messe. Der Prediger forderte uns auf, nach Dingen zu streben, die man nicht kaufen kann, und im Vertrauen auf Gott furchtlos weiterzupilgern. Wünschte ich mir etwas anderes?
Down
Nach gebührender Rast flitzte ich die Kurven zur Küste nach Finisterre hinunter. Diese lange, sanfte Halbinsel südlich von La Coruna, wo die alte Welt zu Ende ist, zeigt wie ein Finger hinaus ins Meer, hinüber in die neue Welt, in der ich als Pilgerin gleichsam erlöst von den Plagen des alten Europas mit neuem Mut einen zweiten Anfang beschloss.
Schließlich erreichte ich Porto, diese wunderbare Stadt im Norden Portugals, an einem tief eingeschnittenen Fjord, über den sich in weitem Bogen Eiffels berühmte, wohlgewölbte Eisenbrücke spannt. Ich hatte wenig Sinn für die Reize der blau gekachelten Häuser, die an den steilen Hängen kleben, und wenig Sinn für die Felsenkeller unten am Wasser, wo der Portwein in Eichenfässern für die Verschiffung in alle Welt heranreift. Im Grunde wollte ich bloß weg von Porto, weg von Europa, Richtung Westen, Richtung neue Welt. Aber die europäischen Plagen wollten noch nicht von mir lassen.
Tief liegende, schwere Wolken und Regengüsse raubten mir den Sinn für die Lebendigkeit