Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Heiko Kleve
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Wäre beispielsweise der Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit weniger staatlich reguliert und finanziert, sondern freier, also zivilgesellschaftlich verankert, von der Wirtschaft und von Stiftungen ökonomisch geprägt, würden in der aktuellen Situation des Fachkräftemangels, der gestiegenen Nachfrage nach Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die Löhne steigen. Es ist ein basaler wirtschaftlicher Zusammenhang, der in Märkten regelmäßig beobachtbar ist, dass die Preise (etwa in Form der Gehälter von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern) steigen bei erhöhter Nachfrage und einem gleichbleibenden oder gar zurückgehenden Angebot.
Wirtschaftliche Freiheit als materielle Basis der Gesellschaft
Der Ausflug in diese Welt ungewohnter Positionen kann als Versuch bewertet werden, einen Systemliberalismus zu entwickeln, der auch für die Reflexion und Gestaltung der sozialarbeiterischen Praxis anwendbar ist. Besorgte Kolleginnen und Kollegen mögen diesen Ausflug in die Kontexte des Liberalismus für gefährlich halten, ihn als Zynismus bewerten. Heute, so die Positionen dieser Kolleginnen und Kollegen, müsse der Kapitalismus kritisiert und nicht verteidigt werden. Die Probleme in der Welt, das Elend, das wir auch in unseren Regionen der Weltgesellschaft sehen, die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (vor allem auch in der Sozialen Arbeit) würden uns doch eindeutig zeigen, wo der Feind sitze: im kapitalistischen Wirtschaftssystem, das seine ökonomischen Prinzipien der gesamten Gesellschaft mehr und mehr aufdrücke und das seine politische Ideologie des Neoliberalismus in alle öffentlichen Debatten unserer Gesellschaft hineindrücke.
Vergessen wird bei dieser Kritik, dass unsere gesamten oben genannten Freiheiten sowie die Ausdifferenzierung professioneller Sozialer Arbeit eine materielle Basis benötigen, die desto stabiler ist, je besser das Wirtschaftssystem sich entfalten und konsolidieren kann. Und dieses System wiederum ist abhängig von auf dem Markt agierenden Unternehmen, die ihre gesamte Kreativität letztlich dafür aufbringen, die Nachfrage der Kunden zu befriedigen.
Ich bin im Realsozialismus der DDR aufgewachsen und habe erlebt, welche erdrückende Dynamik entsteht, wenn sich die Politik anschickt, die gesamte Gesellschaft politisch zu planen und zu steuern. Die Unfreiheit, die sich damit in allen Systemen etablierte, also nicht nur politische, sondern eben auch rechtliche, wissenschaftliche, künstlerische, massenmediale, religiöse und vor allem auch wirtschaftliche Selbststeuerungen verhinderte, lag wie Blei auf allen sozialen Beziehungen. Auch diese Erfahrungen sind eine Antriebskraft für mich, utopische Vorstellungen jenseits der Marktwirtschaft kritisch zu betrachten und die derzeit wieder (etwa durch Terrorismus oder erstarkenden Rechtsradikalismus) in Gefahr stehenden Freiheiten der Moderne in ihren Möglichkeiten und Grenzen zu ergründen, zu verstehen und letztlich zu verteidigen. Denn das, was damit verteidigt wird, ist auch eine moralische Ordnung, die viele unserer geschätzten Werte erst ermöglicht – so zumindest der Sozialphilosoph Wolfgang Kersting (2012, S. 24), der wortstark in seiner Auseinandersetzung mit den ethischen Perspektiven der Marktwirtschaft formuliert:
»Die Marktwirtschaft ist nicht nur das effizienteste System der Ressourcenverwertung und Güterversorgung. Der Markt ist auch eine wertverwirklichende, eine moralische Ordnung. Er ist eine Schule der Selbstverantwortung und planenden Rationalität, der Anpassungsfähigkeit und der Selbsterweiterung; er verlangt eine stete Bereitschaft zum Umlernen und zur Weiterbildung; er fordert Offenheit fürs Neue; auf der anderen Seite aber prämiert er Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. Er fördert somit die Entwicklung fundamentaler menschlicher ethischer Einstellungen und kognitiver Kapazitäten. Er führt zur Mehrung des Wohlstandes und zu einer steten Verbesserung des allgemeinen Versorgungsniveaus. Er ist die menschlichste, weil endlichkeitsbewussteste Veranstaltung; denn Endlichkeit bedeutet Knappheit; Knappheit verlangt klugen Einsatz der Ressourcen, der Rohstoffe, der Arbeit und des Wissens. Kein anderes Wirtschaftssystem garantiert einen effizienteren Einsatz materieller und immaterieller Produktionsmittel. Insofern ist der Markt institutionalisierte Menschenliebe […]. Der Markt ist struktureller Altruismus; um meine eigene Nutzenposition zu verbessern, muss ich anderen die Verbesserung ihrer Nutzenposition ermöglichen.«
Gliederung und Überblick
Das Buch versammelt Beiträge, die ich seit etwa 2010 verfasst habe, die teils bereits publiziert und für diesen Band überarbeitet wurden oder bisher nur online zugänglich waren. Die Texte sind in sieben Kapiteln angeordnet und werden von sozial- und gesellschaftstheoretischen Thesen im ersten und siebten Kapitel eingerahmt.
Im ersten Kapitel geht es zunächst darum, zwei gegensätzliche sozialphilosophische Strömungen, nämlich den Marxismus und den Neoliberalismus, zu kontrastieren. Überraschend mag dabei vielleicht erscheinen, dass die marxistische und die neoliberale Auffassung in einer zentralen Position einig sind, dass nämlich die Wirtschaft das wichtigste gesellschaftliche System sei. Um die Soziale Arbeit als gesellschaftliches System passend zu verorten und ihre Funktion entsprechend einzuschätzen, ist es notwendig, diese Sichtweise zu erweitern, und zwar um einen durch die soziologische Systemtheorie informierten komplexen Liberalismus. Wer komplex und liberal zugleich denkt, sieht nicht nur die Eigendynamik der Wirtschaft, sondern auch die Freiheiten der anderen Funktionssysteme der Gesellschaft (etwa der Wissenschaft, des Rechts, der Kunst, der Erziehung, der Politik oder der Religion), die es im Verhältnis zur Sozialen Arbeit zu beschreiben und zu erklären gilt.
Mit dem zweiten Kapitel wird ein Interview präsentiert, das ich einem Vertreter radikal-liberaler Anschauungen gegeben habe und das die These des komplexen Liberalismus weiter differenziert. Allerdings war der mich interviewende Journalist von meinen Antworten enttäuscht; sie waren ihm zu kompliziert, offenbar zu voraussetzungsvoll und in ihrer Differenziertheit nicht eindeutig genug. Daher wurden sie in dem Online-Medium, für das sie ursprünglich vorgesehen waren, nicht publiziert. Einfacher ist ein komplexer Liberalismus jedoch nicht zu haben.
Im dritten Kapitel werden liberale Positionen mit der methodischen Praxis der Sozialen Arbeit zusammengeführt. Ausgehend von einer Verhältnisbestimmung von Grundaxiomen der Systemtheorie (etwa der Nichtsteuerbarkeit nichttrivialer Systeme) mit zentralen Thesen des Liberalismus (etwa der spontanen Ordnungsbildung), wird die sozialprofessionelle Hilfe anhand liberaler Normen gemessen. Eine zentrale Frage ist hier, wie das Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit in sozialarbeiterischen Handlungsfeldern gestaltet wird und ob es gelingt, die Fremdhilfe dem normativen Ziel zuzuführen und mehr und mehr in individuelle und lebensweltliche Selbsthilfe überzugehen.
Mit dem vierten Kapitel wird mein Ansatz einer kritischen Sozialen Arbeit 3.0 veranschaulicht. Im Gegensatz zur kapitalismuskritischen Sozialen Arbeit 1.0 und der ökonomiekritischen Sozialen Arbeit 2.0 meint meine Variante einer kritischen Sozialen Arbeit eine selbstreflexive Systemkritik. Ausgehend von dem normativen Ziel, dass eine Soziale Arbeit fallbezogen erst dann erfolgreich ist, wenn sie sich überflüssig machen kann, werden drei Systemverhältnisse der Sozialen Arbeit kritisiert und zumindest im Denken für eine Neujustierung geöffnet: das Verhältnis der Sozialen Arbeit zur Politik, zum Recht und zur Ökonomie. Damit wird das eingefordert, was auch in den klassischen Varianten der kritischen Sozialen Arbeit postuliert wird: mehr Autonomie für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in der Gestaltung ihrer professionellen Praxis.
Das fünfte Kapitel präsentiert eine Neubewertung