Krieg und Frieden. Лев Толстой
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In dem Augenblick, als Boris eintrat, hörte Fürst Andrei gerade, die Augen geringschätzig halb zukneifend (mit jener eigenartigen Miene höflicher Müdigkeit, welche deutlich sagt: »Wenn es nicht meine Pflicht wäre, würde ich keinen Augenblick länger mit Ihnen reden«), einen alten, mit Orden geschmückten russischen General an, der in strammer Haltung, beinah auf den Fußspitzen, mit dem Ausdruck einer sonst nur bei den untersten Rangstufen üblichen Unterwürfigkeit auf dem blauroten Gesicht ihm etwas meldete.
»Sehr schön, haben Sie die Güte ein wenig zu warten«, sagte er zu dem General auf russisch, aber mit jener französischen Klangfärbung, deren er sich zu bedienen pflegte, wenn er geringschätzig sprechen wollte. Nun bemerkte er Boris, nickte ihm zu und ging ihm freundlich lächelnd entgegen, ohne sich weiter um den General zu kümmern, der ihm nachlief und ihn flehentlich bat, ihm noch einen Augenblick Gehör zu schenken.
Bei diesem Anblick wurde sich Boris völlig klar über etwas, was er auch schon früher vermutet hatte, daß nämlich in der Armee außer derjenigen Subordination und Disziplin, von der das Reglement handelte, und die im Regiment bekannt war, und die auch er kannte, noch eine andere, wichtigere Subordination existierte, diejenige Subordination, die diesen General mit der festumschnürten Taille und dem blauroten Gesicht zwang, respektvoll so lange zu warten, wie der Hauptmann Fürst Andrei größeres Vergnügen daran fand, sich mit dem Fähnrich Drubezkoi zu unterhalten. Mit größerer Entschiedenheit als je vorher faßte Boris jetzt den Entschluß, künftighin nicht auf der Grundlage jener im Reglement festgesetzten Subordination, sondern auf der Grundlage dieser ungeschriebenen zu dienen. Er war sich jetzt bewußt, daß er, einzig und allein infolge der Empfehlung an den Fürsten Andrei, bereits auf einmal höher stand als ein General, der unter andern Umständen, nämlich bei der Truppe, ihn, den Gardefähnrich, hätte geradezu vernichten können.
Fürst Andrei trat zu ihm und ergriff seine Hand.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie mich gestern verfehlt haben. Ich habe den ganzen Tag über mit den Deutschen meine Plackerei gehabt. Ich war mit Weyrother hingeritten, um die Disposition nachzuprüfen. Na, und wenn die Deutschen erst mit ihrer Gründlichkeit anfangen, da ist kein Ende zu finden.«
Boris lächelte, als hätte er Verständnis für das, was Fürst Andrei wie etwas allgemein Bekanntes andeutete. Aber er hörte den Namen Weyrother und sogar das Wort Disposition in diesem Sinn zum erstenmal.
»Nun also, mein Lieber, haben Sie noch den Wunsch, Adjutant zu werden? Ich habe diese Zeit her wiederholt an Sie gedacht.«
»Ja, ich dachte den Oberkommandierenden darum zu bitten«, antwortete Boris mit unwillkürlichem Erröten. »Fürst Kuragin hat an ihn einen Empfehlungsbrief für mich geschrieben. Ich wollte nur deswegen darum bitten«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu, »weil ich fürchte, daß die Garde nicht ins Gefecht kommt.«
»Schön, schön! Wir wollen über all das noch genauer reden«, sagte Fürst Andrei. »Erlauben Sie nur, daß ich zuerst diesen Herrn anmelde; dann stehe ich vollständig zu Ihren Diensten.«
Während Fürst Andrei zu Kutusow hineinging, um den General mit dem blauroten Gesicht anzumelden, fixierte dieser General, der offenbar Boris' Ansicht über die Vorzüge der ungeschriebenen Subordination nicht teilte, den dreisten Fähnrich, der ihn gehindert hatte, sein Gespräch mit dem Adjutanten zu Ende zu bringen, so hartnäckig, daß es diesem unbehaglich wurde. Er wandte sich ab und wartete ungeduldig auf des Fürsten Andrei Rückkehr aus dem Arbeitszimmer des Oberkommandierenden.
»Sehen Sie, mein Lieber, ich habe über Ihre Angelegenheit nachgedacht«, sagte Fürst Andrei, nachdem sie in den großen Saal mit dem Klavier gegangen waren. »Daß Sie zum Oberkommandierenden gehen, hat keinen Zweck; er wird Ihnen einen Haufen Liebenswürdigkeiten sagen, wird Sie zum Diner einladen« (»Das wäre noch nicht so übel für mein künftiges Dienen auf der Grundlage jener Subordination«, dachte Boris); »aber weiter wird dabei für Sie nichts herauskommen; wir Adjutanten und Ordonnanzoffiziere werden bald ein ganzes Bataillon sein. Aber wir wollen die Sache so machen: der Generaladjutant Fürst Dolgorukow, ein ganz vortrefflicher Mensch, ist ein guter Freund von mir. Nun wissen Sie das zwar vielleicht noch nicht, aber die Sache ist tatsächlich die, daß jetzt Kutusow mit seinem Stab und wir alle nichts mehr zu sagen haben; alle Fäden laufen jetzt beim Kaiser zusammen. Also da wollen wir uns an Dolgorukow wenden; ich muß sowieso zu ihm hingehen und habe mit ihm schon von Ihnen gesprochen; wir wollen sehen, ob er eine Möglichkeit findet, Sie bei sich oder irgendwo dort in der Nähe der Sonne unterzubringen.«
Fürst Andrei wurde immer besonders lebhaft und rege, wenn er in die Lage kam, einem jungen Mann Anleitung zu geben und ihm in der gesellschaftlichen Sphäre zu Erfolg zu verhelfen. Unter dem Vorwand, für einen andern eine Hilfe zu erbitten, die er für sich selbst aus Stolz niemals angenommen hätte, trat er gern in nähere Berührung mit jenen Kreisen, von denen aller Erfolg abhing, und die auf ihn eine starke Anziehungskraft ausübten. So nahm er sich denn des jungen Boris mit großem Vergnügen an und ging mit ihm zum Fürsten Dolgorukow.
Es war schon spätabends, als sie in das Olmützer Schloß hineingingen, wo die Kaiser und ihr Gefolge wohnten. An ebendiesem Tag hatte ein Kriegsrat stattgefunden, an welchem sämtliche Mitglieder des Hofkriegsrates und beide Kaiser teilgenommen hatten. Bei dieser Beratung war gegen die Ansicht zweier bejahrter Herren, nämlich Kutusows und des Fürsten Schwarzenberg, beschlossen worden, unverzüglich anzugreifen und Bonaparte eine Hauptschlacht zu liefern. Als Fürst Andrei, von Boris begleitet, in das Schloß kam, um den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen, war der Kriegsrat soeben beendet. Jedermann im Hauptquartier stand noch unter dem starken Eindruck der heutigen, für die Partei der Jüngeren siegreichen Sitzung. Die Stimmen der Zauderer, welche geraten hatten, noch einige Zeit mit dem Angriff zu warten, waren so einmütig übertönt und ihre Gründe durch so unzweifelhafte Beweise von der Vorteilhaftigkeit eines Angriffs widerlegt worden, daß das, worüber im Kriegsrat gehandelt war, nämlich die bevorstehende Schlacht und der zweifellose Sieg, nicht mehr als etwas der Zukunft, sondern als etwas der Vergangenheit Angehöriges erschien. Alle Vorteile waren auf unserer Seite: gewaltige Streitkräfte, denen die Napoleons unzweifelhaft nicht gleichkamen, waren an einem Punkt zusammengezogen; die Truppen waren durch die Anwesenheit der Kaiser begeistert und brannten vor Kampfbegierde; der strategische Punkt, auf dem gekämpft werden sollte, war dem österreichischen General Weyrother, der die Truppen führte, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt (es erschien als ein glücklicher Zufall, daß die österreichischen Truppen im vorigen Jahr ein Manöver gerade auf dem Terrain abgehalten hatten, auf dem jetzt die Schlacht mit den Franzosen stattfinden sollte), und genaue Karten des Terrains waren an alle Beteiligten verteilt; und Bonaparte, der sich offenbar schwach fühlte, unternahm nichts.
Dolgorukow, einer der eifrigsten Vertreter der Ansicht, daß man angreifen müsse, war soeben aus der Sitzung zurückgekommen, ermüdet und erschöpft, aber doch lebhaft erregt und stolz auf den errungenen Sieg. Fürst Andrei stellte ihm den von ihm protegierten Offizier vor; aber Fürst Dolgorukow drückte diesem zwar höflich und mit Wärme die Hand, redete ihn jedoch nicht an; es drängte ihn offenbar unwiderstehlich, die Gedanken auszusprechen, die ihn in diesem Augenblick stärker als alles