Krieg und Frieden. Лев Толстой
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Krieg und Frieden - Лев Толстой страница 85
In der schlaflosen, aufregungsvollen Nacht nach der Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna war Pierre schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß eine Heirat mit Helene ein Unglück sein würde, und hatte den Entschluß gefaßt, sie zu meiden und wegzureisen; aber seitdem waren anderthalb Monate vergangen, und er war nicht vom Fürsten Wasili weggezogen und fühlte mit Schrecken, daß das Band, das ihn mit Helene verknüpfte, in den Augen der Leute täglich fester werde, daß es ihm ganz unmöglich sei, zu seiner früheren Art, sie anzusehen, zurückzukehren, daß er sich nicht von ihr losreißen könne, und daß, so schrecklich es sei, er sein Schicksal mit dem ihrigen werde verknüpfen müssen. Vielleicht hätte er noch einige Zurückhaltung üben können; aber es verging kein Tag, wo nicht beim Fürsten Wasili (der sonst selten Gäste bei sich gesehen hatte) eine Abendgesellschaft stattfand, an welcher Pierre teilnehmen mußte, wenn er nicht die Erwartung aller enttäuschen und das allgemeine Vergnügtsein stören wollte. Kam Fürst Wasili in den wenigen Minuten, die er zu Hause zubrachte, an Pierre vorbei, so zog er ihn in seiner wunderlichen Manier an der Hand nach unten, hielt ihm zerstreut seine rasierte, faltige Wange zum Kuß hin und sagte entweder: »Auf morgen!« oder: »Iß bei uns zu Mittag, sonst bekomme ich dich heute gar nicht mehr zu sehen«, oder: »Ich bleibe um deinetwillen zu Hause« usw. Nun sprach zwar Fürst Wasili, auch wenn er (wie er sagte) um Pierres willen zu Hause geblieben war, mit ihm doch immer nur wenige Worte; aber trotzdem fühlte sich Pierre außerstande, seine Erwartung zu enttäuschen. Täglich sagte er sich ein und dasselbe: »Ich muß doch endlich über ihr wahres Wesen ins klare kommen und mir darüber Rechenschaft geben, von welcher Beschaffenheit sie eigentlich ist. Habe ich mich früher getäuscht, oder täusche ich mich jetzt?« – »Nein, sie ist nicht dumm; nein, sie ist ein herrliches Mädchen!« gab er sich selbst manchmal zur Antwort. »Nie passiert ihr in irgendwelcher Hinsicht ein Irrtum; nie hat sie etwas Dummes gesagt. Sie spricht wenig; aber was sie sagt, ist immer schlicht und klar. Also ist sie nicht dumm. Nie ist sie unruhig oder verlegen geworden, und sie ist auch jetzt nicht unruhig und verlegen. Also ist sie nicht schlecht!« Es kam, wenn er mit ihr zusammen war, nicht selten vor, daß er Erörterungen über allgemeine Gegenstände anstellte, sozusagen laut dachte; dann antwortete sie ihm jedesmal entweder mit einer kurzen, aber im richtigen Augenblick vorgebrachten Bemerkung, die zeigte, daß der betreffende Gegenstand sie nicht interessierte, oder schweigend mit einem Lächeln und einem Blick, wodurch es ihm nachdrücklicher als auf jede andre Art zum Bewußtsein gebracht wurde, daß sie den Vorrang vor ihm in Anspruch nehmen konnte. Er sah ein: sie hatte ganz recht, wenn sie alle Erörterungen im Vergleich mit diesem Lächeln für Unsinn erachtete.
Sie wandte sich jetzt immer zu ihm mit einem heiteren, vertraulichen, ihm allein geltenden Lächeln, in welchem eine tiefere Bedeutung lag als in dem für alle bestimmten Lächeln, das ihr Gesicht beständig zierte. Pierre wußte, daß alle nur darauf warteten, daß er endlich ein bestimmtes Wort sage, eine gewisse Linie überschreite, und er wußte, daß er früher oder später diese Linie überschreiten werde; aber eine Art von unbegreiflicher Furcht ergriff ihn schon bei dem bloßen Gedanken an diesen schrecklichen Schritt. Tausendmal im Verlauf dieser anderthalb Monate, in denen er sich immer näher und näher zu diesem ihm so furchtbaren Abgrund hingezogen fühlte, hatte Pierre zu sich gesagt: »Aber was soll denn das heißen? Hier ist entschlossenes Handeln notwendig. Bin ich denn dessen unfähig?«
Er wollte einen festen Entschluß fassen; aber er wurde sich mit Schrecken bewußt, daß es ihm in diesem Fall an der Entschlossenheit mangelte, die er doch sonst an sich kannte und die er auch tatsächlich besaß. Pierre gehörte zu denjenigen Menschen, die nur dann stark sind, wenn sie sich völlig rein fühlen. Aber seit dem Tag, wo sich seiner jenes Gefühl der Begehrlichkeit bemächtigt hatte, das auf Anna Pawlownas Abendgesellschaft bei der Zureichung der Tabaksdose in seiner Seele wach geworden war, seitdem wurde seine Energie durch ein unbewußtes Gefühl der Schuldhaftigkeit dieses Verlangens gelähmt.
An Helenens Namenstag war beim Fürsten Wasili eine kleine Gesellschaft, der engste Kreis, wie die Fürstin sagte, zum Souper geladen, nur Verwandte und Freunde. Allen diesen Verwandten und Freunden war zu verstehen gegeben, daß sich an diesem Tag das Schicksal der Tochter des Hauses, deren Namenstag man feiere, entscheiden werde. Die Gäste saßen bei Tisch. Die Fürstin Kuragina, eine korpulente, ehemals schöne, stattliche Dame, saß auf dem Platz, der ihr als Hausfrau zukam; ihr zu beiden Seiten saßen die vornehmsten Gäste: ein alter General, seine Frau, Anna Pawlowna Scherer und andere; am anderen Ende des Tisches hatten die an Alter und Rang geringeren Gäste ihre Plätze, und ebendort saßen die Hausangehörigen, und zwar Pierre und Helene nebeneinander. Fürst Wasili aß nicht mit, er wanderte am Tisch umher, in fröhlichster Stimmung, und setzte sich bald zu diesem, bald zu jenem seiner Gäste auf ein Weilchen hin. Für einen jeden hatte er ein paar flüchtige, freundliche Worte, mit Ausnahme von Helene und Pierre, deren Anwesenheit er gar nicht zu bemerken schien. Fürst Wasili war das belebende Element der ganzen Gesellschaft. Hell brannten die Wachskerzen; es glänzte das Silber- und Kristallgerät der Tafel, die Schmucksachen der Damen, das Gold und Silber der Epauletten; um den Tisch herum liefen die Diener in roten, langschößigen Röcken; man hörte das Geräusch der Messer, Gläser und Teller und das Stimmengeschwirr der Gespräche, die am Tisch im Gange waren. Man hörte, wie an dem einen Ende der Tafel ein alter Kammerherr einer alten Baronin beteuerte, daß er sie glühend liebe, und wie sie darüber lachte; am andern Ende wurde von dem Mißerfolg einer Sängerin Marja Viktorowna gesprochen. In der mittleren Partie der Tafel bildete Fürst Wasili den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er erzählte den Damen mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen von der letzten Mittwochssitzung des Reichsrates, in welcher der neue militärische Generalgouverneur von Petersburg, Sergei Kusmitsch Wjasmitinow, ein von der Feldarmee her eingegangenes Reskript des Kaisers Alexander Pawlowitsch zur Verlesung gebracht hatte. In diesem damals Aufsehen erregenden Reskript hatte der Kaiser, sich an Sergei Kusmitsch wendend, gesagt, er erhalte von allen Seiten Ergebenheitsadressen seines Volkes, und unter diesen sei ihm die Adresse der Stadt Petersburg besonders willkommen; er sei stolz auf die Ehre, das Haupt einer solchen Nation zu sein, und werde sich bemühen, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Das Reskript begann mit den Worten: »Sergei Kusmitsch! Von allen Seiten gehen mir Nachrichten zu« usw.
»Also über ›Sergei Kusmitsch‹ ist er nicht hinausgekommen?« fragte eine der Damen.
»Nein, weiter brachte er fast kein Wort heraus«, antwortete Fürst Wasili lachend. »›Sergei Kusmitsch ... von allen Seiten. Von allen Seiten, Sergei Kusmitsch ...‹ Weiter konnte der arme Wjasmitinow absolut nicht kommen. Mehrere Male nahm er den Brief von neuem in Angriff; aber sowie er gesagt hatte ›Sergei‹, fing er an zu schlucken ... ›Ku...smi...tsch‹, da kamen ihm die Tränen, und die Worte ›von allen Seiten‹ wurden schon ganz von Schluchzen erstickt, und weiter konnte er überhaupt nichts herausbringen. Er benutzte sein Taschentuch und begann wieder: ›Sergei Kusmitsch, von allen Seiten‹, und da liefen ihm wieder die Tränen ... Schließlich ersuchte man einen andern, das Reskript vorzulesen.«
»›Kusmitsch ... von allen Seiten‹, und da liefen ihm die Tränen ...«, wiederholte einer der Gäste lachend.
»Seien Sie doch nicht so boshaft!« sagte Anna Pawlowna vom oberen Ende des Tisches her und drohte mit dem Finger. »Er ist doch ein so braver, ausgezeichneter Mann, unser guter Wjasmitinow ...«
Alle lachten herzlich. Auch am oberen Ende des Tisches, auf den Ehrenplätzen, schienen alle heiter zu sein und sich in angeregter Stimmung zu befinden, was sich in verschiedener Weise äußerte; nur Pierre und Helene saßen, beinah am untersten Ende des Tisches, schweigend nebeneinander; auf den Gesichtern beider lag ein strahlendes Lächeln, das sie vergebens zu unterdrücken suchten und das nichts mit Sergei Kusmitsch zu tun hatte, ein Lächeln verschämter Scheu vor ihren eigenen Gefühlen. Und was die andern Tischgenossen anlangte, mochten sie auch noch so eifrig reden und lachen und scherzen, mochten sie auch mit noch so großem