Mami Bestseller 55 – Familienroman. Myra Myrenburg
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Das war es ja. Er verwirrte Wendi immer.
Sie wußte nicht, wie der Mensch Alexis wirklich aussah, sie wußte es nicht, wenn er geschminkt im Clownskostüm in die Manege tänzelte, sie wußte es auch nicht, wenn er, so wie jetzt, abgeschminkt neben ihr saß und sie anlachte.
»Werde ich es jemals wissen?« murmelte Wendi vor sich hin.
»Was denn, kleines Mädchen?«
»Wer du wirklich bist, Alexis.«
Sein Lachen verklang. Seine Augen blickten ernst und unerbittlich in ihr schmales Gesicht.
»Doch!« sagte er, ungeachtet des allgemein eingetretenen Schweigens, das seine Worte um so mehr hervorhob. »Eines Tages wirst du das wissen. Leider. Aber bis dahin…«, und das Lachen war wieder da, tief und kehlig und voll hintergründiger Heiterkeit, »wollen wir noch ein paar Gläser leeren, du und ich, und ihr auch, Freunde. Hoch lebe die Freiheit, der Zirkus und das Leben! Hoch!«
Die Gläser klangen, lachende Gesichter tanzten einen wilden Reigen vor Wendis verschleierten Augen, und sie hörte sich selbst »hoch!« rufen, und sie schmeckte den Wein herb und jung und würzig auf der Zunge.
An diesem Abend küßten sie sich zum erstenmal. Im Schatten der Rosenbüsche, unter unbelaubten Bäumen im Kurpark, der in der Form eines Rondells angelegt war.
Aber Nora sah es nicht mehr. Es war weit nach Mitternacht, und sie lag in ihrem breiten Bett.
Sie brauchte es auch nicht zu sehen, sie wußte es sowieso.
*
»Tag, Onkel Fedja!« rief Wendi strahlend, obwohl offenbar sehr eilig. »Wie gefällt dir mein neues Kostüm?«
»Du siehst aus wie eine Ballettratte. Aber das liegt an der Kürze. So trägt man’s jetzt allgemein, nicht wahr? Nun, wohl dem, der sich das leisten kann. Zu diesen Glücklichen gehörst du, Wendi. Manchmal könnte man meinen, du hättest seit deinem zwölften Lebensjahr kein Pfund zugenommen. Wirklich, allmählich müßtest du ein bißchen mehr Formen kriegen, meinst du nicht auch?«
Und er lachte aus vollem Hals, weil er wußte, daß dies Wendis stiller Kummer war.
Sie hatte die Figur eines Porzellanfigürchens, klein, unsagbar zierlich, zerbrechlich.
»Macht mir nichts aus!« war Wendis unerwartet heitere Antwort, und damit flog sie auch schon die Treppe hinunter, Fedor Rasin sah ihr kopfschüttelnd nach, denn er konnte ja nicht wissen, daß Wendi nicht mehr unter ihrer Winzigkeit litt, seitdem ein junger Mann mit undeutbaren dunklen Augen ihr gestanden hatte, daß er nichts so sehr liebe wie ihre Leichtigkeit und Zierlichkeit und daß es ihm überhaupt nichts ausmache, daß sie so klein sei.
»Sieh mal an«, sagte Fedor zwei Minuten später und ließ sich in den schweren braunen Ledersessel fallen, »unser kleines Kätzchen mausert sich aber ganz gehörig, Nora. Wie hast du denn das angestellt?«
»Ich«, erwiderte seine alte Freundin Nora Lippit, »ich habe nichts dazu getan, im Gegenteil. Am liebsten hätte ich es total verhütet, jedenfalls in diesem Zusammenhang – ach, Moment, wir haben ja noch keinen Kaffee…«
»Du sprichst in Rätseln«, sagte Fedor Rasin kopfschüttelnd und schnitt das untere Ende seiner Zigarre sorgfältig ab, »willst du mir nicht erklären, was du damit meinst?«
Nora rollte den Teewagen mit Kaffee und Gebäck herein, rief noch etwas zu Lisette hinaus und ließ sich ihrem Gast gegenüber nieder.
»Es hat sie erwischt, Fedja.«
»Na und? Mit zweiundzwanzig warst du schon unter der Haube, meine Liebe.«
»Es ist nicht ihr Alter, das mich daran stört. Es ist ihre Wahl.«
»Sag bloß – es ist…«
»Ja«, seufzte Nora und rührte in ihrer Tasse, »er ist es. Wendi ist wie ein aufgeschlagenes Buch, und man kann ruhig ein paar Seiten vorblättern, dann weiß man Bescheid, bevor sie es selbst weiß. Aber nachdem nun ich im Bilde bin, hat sie es endlich auch begriffen. Was schlägst du vor, Acapulco oder der Norden Finnlands?«
»Acapulco«, antwortete Fedor Rasin sehr entschieden. »Finnland würde ich ganz ausklammern. Diese Temperaturen, Nora, ich bitte dich. In zwei Tagen kannst du vor lauter Rheuma nicht einen Schritt mehr gehen.«
»Erinnere mich nicht an meine Leiden und an mein Alter, Fedja, sondern überlege dir lieber mal, was man sonst noch unternehmen könnte. Acapulco ist so mondän geworden in den letzten Jahren. Wendi macht sich nicht viel aus dem Rummel der großen Welt. Sie erforscht lieber auf eigene Faust etwas Neues, sie ist naturverbundener, als ich es war oder du.«
»Oh«, wehrte sich Fedor Rasin energisch. »Ich bin ein Naturmensch, Nora, wie kannst du daran zweifeln? Ich habe früher eine Woche lang in Jagdhütten gehaust und nichts anderes getan, als das Wild zu beobachten, den Wald, die Bäume, na, du weißt schon, was ich meine.«
»Ich weiß es in der Tat!« lächelte Nora und trank ihre Tasse leer. »Zumindest kann ich es mir ausgezeichnet vorstellen. Du hast den Pegel der Wodkaflaschen beobachtet, die ihr dort in den Jagdhütten munter kreisen ließet. Nein, Fedja. Wendi ist von anderer Art als du und ich. Um sie wirklich abzulenken, brauche ich mehr als ein Luxushotel mit Swimmingpool.«
»Na schön, Nora. Aber es braucht doch nicht gerade am Nordpol zu liegen. Im Ernst, du verträgst das nicht. Weißt du noch, wie du damals in Helsinki gefroren hast, als wir eine Tournee beendeten? Und dabei warst du bloß drei Tage dort.«
»Ich hatte mich eben noch nicht dran gewöhnt, Fedja. Wenn ich mich länger dort aufhalte, wird sich das vielleicht ändern.«
Fedor Rasin seufzte tief und abschätzig.
»Das schlimmste an den meisten Frauen«, sagte er mit Nachdruck, »ist die Tatsache, daß sie sich selbst so wenig kennen. Sie weigern sich einfach, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Und leider bist du in diesem Punkt nicht anders als die anderen.
Erstens, Nora, wirst du die Sache damit nicht ändern, indem du das Kind einige tausend Luftkilometer weiter nördlich oder südlich versetzt. Zweitens wirst du dir das Zipperlein holen, wenn du in Temperaturen unter Null leben willst, und sei es auch nur für eine kleine Weile. Nimm doch Vernunft an, Nora, du bist doch sonst nicht so kopflos.
Was willst du mit dieser Flucht überhaupt erreichen, denn nur als Flucht kann man das bezeichnen. Wendi wird es genauso durchschauen wie ich. Sie ist ein liebenswertes Menschenkind, ein bißchen unfertig noch und ziellos, na, was soll’s! Sie braucht eben länger als andere.
Aber Glück hattest du ja mit ihr, das gebe ich unumwunden zu. Nur – Nora mach dir einmal klar, daß du sie nicht vor allem bewahren kannst und sollst. Wendi wäre heute vielleicht ein reiferer Mensch, wenn du ihr Gelegenheit dazu gegeben hättest. Du bist eine Glucke, was das Kind angeht, mit einem eigenen hättest du dich nicht mehr engagieren können – entschuldige, ich vergaß…«
Nora Lippits starrer Blick löste sich von der Zimmerdecke.
»Nun gut«, murmelte sie heiser, »ich weiß, was du sagen willst. Du meinst es gut, aber du bist im Irrtum. Nicht Wendis wegen will ich auf Reisen gehen, nicht ausschließlich ihretwegen