Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

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Platzspitzbaby - Franziska K. Müller

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einzigen Ort, der ihnen reinlich genug erschien: in meinem Kleiderschrank. Noch wiegte sich Vater in der falschen Hoffnung, das Schreckliche möge nicht wahr sein, und konzentrierte sich auf die offensichtlichen Verfehlungen seiner Frau, die eine ausgeprägte Kaufsucht entwickelt hatte. Trotz Ermahnungen und inständiger Bitten konsumierte sie während Monaten beinahe wahllos, was die freie Warenwelt zu bieten hatte. Sie beteiligte sich an Schneeballsystemen, orderte via Teleshopping Unbrauchbares in großen Mengen: Ob der Brusteinlagen, Staubwedel, elektrischen Rührbesen und exotischen Haarteile in allen Farben quoll das Häuschen bald über, während es am Lebensnotwendigen zunehmend fehlte. Einmal entdeckte mein Vater fünfzig Flaschen Markenparfüm in einem Versteck, zwei Wochen später lieferte ein Lastwagen dreihundert Portionen Katzenfutter an.

      Papa war außer sich, vor allem, weil im Kühlschrank bis auf ein paar verschimmelte Kartoffeln nun meist gähnende Leere herrschte, er nach der Arbeit immer öfters zu Putzzeug und Pfannen greifen musste, um mir einen Teller Reis oder Teigwaren zu kochen und danach mein kindliches Bedürfnis nach Liebe und Aufmerksamkeit zu stillen. Nur noch selten fabrizierte Mutter eine Mahlzeit, mit meist ungenießbarem Resultat. Einfachste Verrichtungen, das Zusammenfalten eines Kleidungsstückes, das Einstecken des Staubsaugers oder das Streichen eines Butterbrotes, aber auch Wichtigeres erwiesen sich als Aufgaben, denen sie nicht mehr gewachsen war. Jahre später las ich von einem wissenschaftlichen Experiment in den frühen Achtzigerjahren: Einer gesunden Spinne, die bis anhin perfekte, wundervolle Netze wob, wurden winzige Mengen Heroin verabreicht, die im Mengenverhältnis dem menschlichen Konsum entsprachen. Bald wies das neu gesponnene Netz Unregelmäßigkeiten auf, war löchrig, und nach wenigen Wochen schuf das Tier nur noch ein chaotisches Fragment aus wenigen, ungeordneten Speichelfäden, ein trauriges Gebilde. Zur Nahrungsbeschaffung komplett untauglich, verursachte es den sicheren Tod der Spinne – und ihrer Nachkommen. In dieser Zeit starb ich beinahe an einer schweren Blutvergiftung. Extreme Schmerzen und starke Übelkeit relativierte Mutter tagelang als Simulantentum. Endlich im Krankenhaus, breitete sich die Vergiftung bereits in der Hüfte und dem dortigen Lymphsystem aus. Die Notfallärzte herrschten die Eltern an, ich hätte die nächste Nacht nicht überlebt. In den folgenden Tagen musste ich ohne Narkose mehrere Kniespülungen über mich ergehen lassen. Ich litt Höllenqualen, und meine Schreie führten dazu, dass Mutter vor Publikum unter Wehklagen in Ohnmacht fiel.

      Das Böse bahnte sich unaufhaltsam den Weg in unser Leben. Im Nachhinein kann ich sagen: Mutter wehrte sich nicht. Nicht für sich und nicht für uns. Sie verfügte über Erfahrungen mit harten Drogen, wusste, dass sich das Ausmaß der Katastrophe mit Verzug entfaltet, in der Schonfrist Narrenfreiheit herrscht, weil sich alles leugnen und vertuschen lässt, auch wenn das Offensichtliche bereits auf der Hand liegt. Sie wusste, dass man sich den Anfängen mit aller Kraft entgegenstellen muss, ansonsten ein Unglück droht, das alles auflösen wird: die Menschlichkeit und die Fürsorglichkeit, den Anstand und die Moral. Sie wusste es, als sie sich mit den immer gleichen Rechtfertigungen vor sich selbst und in stillen Vorwürfen, die meinen Vater schuldig sprachen, einen ersten Schuss setzte, dem tausend weitere folgten. Man kann jene, die an einen glauben und das Schreckliche nicht wahrhaben wollen, lange Zeit belügen, betrügen, bestehlen. Nicht um meinen Vater zu schonen, sondern um sich seiner Kritik zu entziehen, vertuschte Mutter die Tatsachen so lange, bis es zu spät war. Auch für mich, die sie in den Abgrund mitriss, uneinsichtig und mitleidlos.

      Heroin, das stärkste Opiat überhaupt, ist eine Droge, die so süchtig macht, dass Menschen, die ihr verfallen, ihre Kinder verhungern und verdursten lassen, für einen Schuss zu Mördern werden, sich für zehn Franken prostituieren. Die Belohnung ist ein Zustand, der als göttliche Erfüllung beschrieben wird, mit einem Aufenthalt im Mutterleib vergleichbar oder mit einem hundertmal größeren Glück, als man es jemals zuvor empfand. In Wirklichkeit entspricht diese Sucht dem Bedürfnis nach einem gefühllosen Zustand, der völligen Loslösung von der Umwelt und dem Verlust aller Wahrnehmung, die einem mit dem Leben und seinen Forderungen verbindet. Nur die Schwächsten finden dies erstrebenswert, jene, denen ein fünfminütiges Ausharren in der Wirklichkeit so unerträglich erscheint, dass sie dieser Angst ihre Existenz opfern.

      Neuere Studien besagen, dass neurologische Voraussetzungen die Suchtpersönlichkeit steuern, ein Mangel an Glückshormonen für die Abhängigkeit verantwortlich sei, die als Folge von gestörten Regulationsvorgängen im Belohnungssystem mit Auswirkungen auf Motivation, Gedächtnis und Impulskontrolle betrachtet werden müsse. In diesem Sinn bestimmte die WHO (World Health Organization), dass unter dem Abhängigkeitssyndrom leidenden Menschen keine Willensoder Charakterschwäche unterstellt werden dürfe. In meiner Logik heißt es, dass die Süchtigen keine selbstverantwortlichen Individuen sind, denen man paradoxerweise aber die Kindererziehung überlässt. Vermutlich lebten jene, die diese Definitionen ausarbeiteten, auch nicht jahrelang mit einem drogenabhängigen Menschen zusammen. In meiner Wahrnehmung opferte Mutter dem Zustand des Nichtseins – freiwillig und mit großer Entschlusskraft – alles.

       Frühe Schicksalsjahre

      Sechsjährig, machte ich einen folgenschweren Fund. Unsere Möbeleinrichtung stammte aus diversen Brockenhäusern, und manch gut erhaltene Stücke erhielten meine Eltern von Kollegen. Beim Prunkstück des gemütlichen Mobiliars handelte es sich um eine weiß lackierte Wohnwand mit stuckaturverzierten Spiegeln. Die wie aus Zuckerguss hingespritzten Ranken und Rauten begeisterten mich ebenso wie die in den einzelnen Fächern untergebrachten Errungenschaften: ein Videogerät und ein CD-Player. Als Kleinkind schuf mir ein erstes Baby-Kassettengerät mit einem pinkfarbenen Mikrofon eine musikalische Grundlage, die sich später als wertvoll erweisen sollte. Meine damals tausendfach aufgenommene und wieder abgespielte Stimme schulte mein Gehör früh, und noch heute erkenne ich den gesungenen Misston sofort. Irgendwann wurden die Batterien meines Lieblingsspielzeugs nicht mehr ersetzt, und nach Jahren, in denen ich Papas Schellackplatten aus den Plattenhüllen gezogen, heimlich auf den Plattenteller platziert und die Nadel vorsichtig daraufgesetzt hatte, um die Klänge von Led Zeppelin und Tina Turner in mich hineinsickern zu lassen, eröffneten mir die neuen, silberfarbenen Scheiben den Zugang zur rätselhaften Gefühlswelt der Erwachsenen. Hymnen wie »Stairway to Heaven« oder David Bowies »Moonage Daydream« sind für mich bis zum heutigen Tag mit dem Niedergang meiner Familie verbunden.

      Wie so oft schob ich an diesem späten Nachmittag eine Haarspange in den Videorecorder. In der kindlichen Hoffnung, die Silhouette des Objektes möge bald auf dem schwarzen Bildschirm erscheinen, vertrieb ich mir mit diesem Spiel regelmäßig die Zeit. Das Vorhaben misslang, und da es mir eigentlich verboten war, mit den technischen Gerätschaften der Erwachsenen zu hantieren, musste die Klammer auch wieder entfernt werden, was sich diesmal als schwierig erwies. Ich zog die schwarze Box hervor, drehte, wendete und schüttelte sie so lange, bis die Klammer zu Boden fiel – und mit ihr ein mir unbekannter Gegenstand, den ich sofort als Geheimnis erkannte, das ich aus seinem Versteck befördert hatte. Zwei Stufen auf einmal erklimmend, rannte ich ins elterliche Schlafzimmer im oberen Stockwerk, weckte meinen Vater, der sich kurz hingelegt hatte, und hielt ihm meine Entdeckung vor das Gesicht. Ich sehe Papa noch heute vor mir, wie er sich mit einem gewaltigen Ruck aufsetzte, mir das Fundstück langsam aus der Hand nahm und es sekundenlang mit versteinerter Miene betrachtete: In seiner Hand lag ein Kanülendeckel. Ein durchsichtiger Plastikschutz, in dem eine Injektionsnadel steril und sicher aufbewahrt werden kann. Er schwieg. Fassungslos. Die Hoffnung auf einen Schlag zerstört, alle Beschwichtigungen als Lüge enttarnt: Schluchzend bestätigte Vater meine Befürchtung, dass etwas sehr Schlimmes geschehen war.

      Was ich bis anhin als beängstigende, für mein kindliches Verständnis aber auch als normale Zustände wahrgenommen hatte, erwies sich als Auftakt einer Katastrophe, die sich im grellen Licht der Wahrheit unbändig verhielt. Gewohnt, einen Fehler gutzumachen, indem man sein Verhalten zu ändern versucht, stellte ich fest, dass der schreckliche Fund bei meiner Mutter das Gegenteil bewirkte: Sie agierte von nun an entfesselt und wie befreit. Heute weiß ich: Sie ließ sich abermals in ein Methadonprogramm aufnehmen, aber wie die meisten Süchtigen jener Zeit verscherbelte sie die Ersatzdroge bald auf dem Zürcher Platzspitz, um an Bargeld zu gelangen, oder sie konsumierte das Methadon

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