Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden - Selma Lagerlöf страница 3
Er hatte noch nicht lange geschlafen, da erwachte er von einem leisen Geräusch im Hintergrund. Auf dem Fensterbrett vor ihm stand ein kleiner Spiegel, in dem fast das ganze Zimmer zu sehen war. Als der Junge nun den Kopf hob und sein Blick auf den Spiegel fiel, entdeckte er, dass jemand den Deckel von Mutters Truhe aufgeschlagen hatte.
Seine Mutter besaß eine große Truhe aus Eichenholz mit eisernen Beschlägen, die niemand als sie selbst öffnen durfte. Darin verwahrte sie alte Bauerntrachten und schwere Silberspangen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und die sie besonders sorgfältig hütete.
Jetzt sah der Junge im Spiegel ganz deutlich, dass der Deckel der Truhe offen stand. Das war ihm unbegreiflich, denn Mutter hatte die Truhe geschlossen, bevor sie gegangen war. Es wäre ihr ganz gewiss nicht passiert, die Truhe offen zu lassen, wenn er sich allein im Haus aufhielt.
Ihm wurde richtig unheimlich zumute. Vielleicht hatte sich ein Dieb ins Haus geschlichen?
Während er vor dem Spiegel saß und hineinstarrte, bemerkte er mit Verwunderung, dass über den Rand der Truhe ein schwarzer Schatten fiel. Er guckte und guckte und wollte seinen Augen nicht trauen. Doch was er anfangs für einen Schatten gehalten hatte, wurde immer deutlicher, und bald erkannte er, dass es etwas Wirkliches war. Tatsächlich, es war ein Kobold, der rittlings auf dem Rand der Truhe saß.
Von Kobolden hatte der Junge zwar schon gehört, doch niemals hätte er sich vorgestellt, dass sie so klein sein könnten. Der da auf dem Truhenrand saß, war höchstens eine Handbreit groß. Er hatte ein altes, runzliges, bartloses Gesicht, trug einen langen schwarzen Rock, Kniehosen, einen schwarzen Hut mit breiter Krempe und, um richtig geputzt und fein zu sein, weiße Spitzen um Hals und Handgelenke, Schnallen an den Schuhen und Strumpfbänder mit Schleifen. Er war so in den Anblick der Truhe vertieft, dass er das Erwachen des Jungen nicht bemerkte.
Obwohl der ganz schön über den Kobold staunte, erschrak er doch nicht so heftig. Vor einem solchen Wicht konnte man sich gar nicht fürchten. Und weil der Kobold ganz mit sich selbst beschäftigt war und weder zu hören noch zu sehen schien, bekam der Junge Lust, ihm einen Streich zu spielen: ihn in die Truhe schubsen und den Deckel über ihm zuschlagen oder so etwas Ähnliches.
Er sah sich in der Stube nach einem Gegenstand um, mit dem er ihn anstoßen könnte. Er ließ seine Augen von der Schlafbank zum Klapptisch und vom Klapptisch zum Herd wandern, musterte die Töpfe und den Kaffeekessel auf dem Bord neben dem Herd, den Wassereimer an der Tür und Kochlöffel und Messer und Gabeln und Schüsseln und Teller, die in der halboffenen Schranktür sichtbar waren. Er sah hinauf zu Vaters Flinte, die an der Wand hing, und zu den Pelargonien und Fuchsien, die auf dem Fensterbrett blühten. Zuletzt fiel sein Blick auf einen alten Fliegenkescher am Fensterrahmen.
Kaum hatte er den entdeckt, da riss er ihn an sich, sprang auf und schwenkte ihn über den Rand der Truhe. Und er staunte selbst, was für ein Glück er hatte, denn es gelang ihm, den Kobold zu fangen. Das arme Kerlchen lag, den Kopf nach unten, auf dem Boden des langen Keschers und konnte nicht heraus.
Im ersten Augenblick wusste der Junge gar nicht, was er mit seiner Beute anstellen sollte. Er schwenkte den Kescher nur hin und her, damit ihm der Kobold ja nicht entwischen könnte.
Da begann der Kobold zu sprechen und bat ganz inständig um seine Freiheit. Er habe den Leuten des Hauses viele Jahre Gutes getan, sagte er, und verdiene wohl eine bessere Behandlung. Wenn der Junge ihn freilasse, wolle er ihm einen alten Speziestaler, einen silbernen Löffel und ein Goldstück geben.
Das hielt der Junge für ein gutes Angebot. Er ging sogleich darauf ein und hielt den Kescher an, damit der Kobold hinausklettern konnte. Doch als dieser fast draußen war, kam dem Jungen der Gedanke, er hätte sich ganz andere Reichtümer und alle möglichen Vorteile ausbedingen sollen. »Wie dumm von mir, dass ich ihn freigegeben habe!«, dachte er und begann den Kescher von neuem zu schütteln, um den Kobold wieder hineinfallen zu lassen.
Doch im selben Moment bekam er eine so entsetzliche Ohrfeige, dass er glaubte, sein Kopf würde in Stücke springen. Er flog erst gegen die eine, dann gegen die andere Wand, schlug schließlich hin und blieb bewusstlos liegen.
Als er zu sich kam, war er allein in der Kate. Vom Kobold entdeckte er keine Spur. Der Deckel der Truhe war geschlossen, und der Fliegenkescher hing wie immer am Fenster. Hätte der Junge nicht gespürt, wie seine rechte Wange von der Ohrfeige brannte, er hätte das Ganze beinah für einen Traum gehalten.
Doch als er nun zum Tisch gehen wollte, bemerkte er etwas Sonderbares. Die Stube konnte ja unmöglich gewachsen sein. Aber wie kam es dann, dass er so viele Schritte mehr als sonst machen musste, um den Tisch zu erreichen? Und was war mit dem Stuhl los? Der sah nicht größer aus, als er eben noch gewesen war, doch der Junge musste erst die Leiste zwischen den Stuhlbeinen erklimmen und dann auf den Sitz klettern. Und mit dem Tisch war es dasselbe. Um die Tischplatte zu überblicken, musste er auf die Armlehne des Stuhls steigen.
»Um Himmels willen, was ist denn das?«, sagte der Junge. »Ich glaube, der Kobold hat den Lehnstuhl und den Tisch und die ganze Stube verhext!«
Die Postille lag auf dem Tisch, und dem Anschein nach war sie unverändert. Doch irgendetwas war auch mit ihr nicht in Ordnung, denn der Junge musste sich geradezu in das Buch hineinstellen, um ein einziges Wort zu entziffern.
Als er ein paar Zeilen gelesen hatte, schaute er auf. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel, und plötzlich rief er ganz laut: »Aber da ist ja noch ein Kobold!«
Er sah nämlich im Spiegel ganz deutlich einen winzig kleinen Knirps, bekleidet mit Zipfelmütze und Lederhosen.
»Der hat ja dasselbe an wie ich!«, sagte der Junge und klatschte vor Verwunderung in die Hände. Da entdeckte er, dass auch der Knirps im Spiegel klatschte.
Nun fing er an, sich an den Haaren zu ziehen, in die Arme zu kneifen und sich herumzudrehen, und augenblicklich machte jener, der im Spiegel zu sehen war, alles nach.
Der Junge lief ein paarmal um den Spiegel herum und untersuchte, ob sich dahinter irgendein Kerlchen versteckte. Doch als er niemanden fand, begann er vor Angst zu zittern, denn jetzt wurde ihm klar, dass ihn der Kobold verzaubert hatte und dass jener Knirps, dessen Bild er im Spiegel sah, kein anderer war als er selbst.
Die Wildgänse
Der Junge konnte es kaum fassen, dass er in einen Kobold verwandelt worden war. »Sicher ist das nur ein Traum oder eine Einbildung«, dachte er. »Wenn ich ein paar Augenblicke warte, werde ich bestimmt wieder Mensch.«
Er stellte sich vor den Spiegel und schloss die Augen. Ein paar Minuten später schlug er sie wieder auf und hoffte nun, dass der Zauber vorüber sei. Aber der war nicht vorüber – er war genauso klein wie zuvor. Ansonsten hatte er sich nicht verändert: Die flachsblonden Haare, die Sommersprossen auf der Nase, die Flicken auf der Lederhose und die Stopfstelle am Strumpf, alles war ganz genauso – es war nur kleiner geworden.
Nein, stillstehen und abwarten, das half nichts. Am klügsten schien ihm zu sein, den Kobold aufzuspüren und sich mit ihm zu versöhnen.
Da sprang der Junge vom Tisch und machte sich auf die Suche. Er guckte hinter Stühle und Schränke, unter die Schlafbank und in den Backofen. Er kroch sogar in ein paar Mauselöcher, doch den Kobold konnte er nicht finden.
Er weinte und flehte und versprach alles, was man sich denken kann. Nie wieder wollte er sein Wort brechen, nie wieder wollte er böse sein, nie wieder wollte er über der Predigt einschlafen. Wenn er nur wieder Mensch werden dürfte,