LTI. Victor Klemperer

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LTI - Victor Klemperer Reclam Taschenbuch

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die Beamtenschaft gereinigt wurde und ich mein Katheder verlor, suchte ich mich erst recht von der Gegenwart abzuschließen. Die so unmodernen und längst von jedem, der etwas auf sich hielt, geschmähten Aufklärer, die Voltaire, Montesquieu und Diderot, waren immer meine Lieblinge gewesen. Nun konnte ich meine gesamte Zeit und Arbeitskraft an mein weit fortgeschrittenes Opus wenden; was das achtzehnte Jahrhundert anlangt, saß ich ja im Dresdener Japanischen Palais wie die Made im Speck; keine deutsche, kaum die Pariser Nationalbibliothek selber hätte mich besser versorgen können.

      Aber dann traf mich das Verbot der Bibliotheksbenutzung, und damit war mir die Lebensarbeit aus der Hand geschlagen. Und dann kam die Austreibung aus meinem Hause, und dann kam alles Übrige, jeden Tag ein weiteres Übriges. Jetzt wurde die Balancierstange mein notwendigstes Gerät, die Sprache der Zeit mein vorzüglichstes Interesse.

      Ich beobachtete immer genauer, wie die Arbeiter in der Fabrik redeten, und wie die Gestapobestien sprachen, und wie man sich bei uns im Zoologischen Garten der Judenkäfige ausdrückte. [22]Es waren keine großen Unterschiede zu merken; nein, eigentlich überhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutznießer und Opfer, von denselben Vorbildern geleitet.

      Ich suchte dieser Vorbilder habhaft zu werden, und das war in gewisser Hinsicht über alle Maßen einfach, denn alles, was in Deutschland gedruckt und geredet wurde, war ja durchaus parteiamtlich genormt; was irgendwie von der einen zugelassenen Form abwich, drang nicht an die Öffentlichkeit; Buch und Zeitung und Behördenzuschrift und Formulare einer Dienststelle – alles schwamm in derselben braunen Sauce, und aus dieser absoluten Einheitlichkeit der Schriftsprache erklärte sich denn auch die Gleichheit aller Redeform.

      Aber wenn das Heranziehen der Vorbilder für tausend andere ein Kinderspiel bedeutet hätte, so war es doch für mich ungemein schwer und immer gefährlich und manchmal ganz und gar unmöglich. Kaufen, auch Ausleihen jeder Art von Buch, Zeitschrift und Zeitung war dem Sternträger verboten. Was man heimlich im Haus hatte, bedeutete Gefahr und wurde unter Schränken und Teppichen, auf Öfen und Gardinenhaltern versteckt oder beim Kohlenvorrat als Anheizmaterial aufbewahrt. Derartiges half natürlich nur, wenn man Glück hatte.

      Nie, in meinem ganzen Leben nie, hat mir der Kopf so von einem Buche gedröhnt wie von Rosenbergs Mythus. Nicht etwa, weil er eine so ausnehmend tiefsinnige, schwer zu begreifende oder seelisch erschütternde Lektüre bedeutete, sondern weil mir Clemens den Band minutenlang auf den Kopf hämmerte. (Clemens und Weser waren die besonderen Folterknechte der Dresdener Juden, man unterschied sie allgemein als den Schläger und den Spucker.) »Wie kannst du Judenschwein dich unterstehen, ein solches Buch zu lesen?« brüllte Clemens. Ihm schien das eine Art Hostienentweihung. »Wie kannst du es überhaupt wagen, ein Werk aus der Leihbibliothek hier zu haben?« Nur daß der Band nachweislich auf den Namen der arischen Ehefrau ausgeliehen war, und freilich auch, daß das dazugehörige Notizblatt unentziffert zerrissen wurde, rettete mich damals vor dem KZ.

      [23]Alles Material mußte auf Schleichwegen herangeschafft, mußte heimlich ausgebeutet werden. Und wie vieles konnte ich mir auf keine Weise beschaffen! Denn wo ich ins Wurzelwerk einer Frage einzudringen suchte, wo ich, kurz gesagt, fachwissenschaftliches Arbeitsmaterial brauchte, da ließen mich die Leihbüchereien im Stich, und die öffentlichen Bibliotheken waren mir ja verschlossen.

      Vielleicht denkt mancher, Fachkollegen oder ältere Schüler, die inzwischen zu Ämtern gekommen waren, hätten mir aus dieser Not helfen, sie hätten sich für mich als Mittelsmänner in den Leihverkehr einschalten können. Du lieber Gott! das wäre ja eine Tat persönlichen Mutes, persönlicher Gefährdung gewesen. Es gibt einen hübschen altfranzösischen Vers, den ich oft vom Katheder herab zitiert, aber erst später, in der kathederlosen Zeit, wirklich nachgefühlt habe. Ein ins Unglück geratener Dichter gedenkt wehmütig der zahlreichen amis que vent emporte, et il ventait devant ma porte, »der Freunde, die der Wind davonjagt, und windig war’s vor meiner Tür«. Doch ich will nicht ungerecht sein: ich habe treue und tapfere Freunde gefunden, nur waren eben nicht gerade engere Fachkollegen oder Berufsnachbarn darunter.

      So stehen denn in meinen Notizen und Exzerpten immer wieder Bemerkungen wie: Später feststellen! … Später ergänzen! … Später beantworten! … Und dann, als die Hoffnung auf das Erleben dieses Später sinkt: das müßte später ausgeführt werden …

      Heute, wo dies Später noch nicht völlige Gegenwart ist, aber es doch in dem Augenblick sein wird, da wieder Bücher aus dem Schutt und der Verkehrsnot auftauchen (und da man mit gutem Gewissen aus der Vita activa des Mitbauenden in die Studierstube zurückkehren darf), heute weiß ich, daß ich nun doch nicht imstande sein werde, meine Beobachtungen, meine Reflexionen und Fragen zur Sprache des Dritten Reichs aus dem Zustand des Skizzenhaften in den eines geschlossenen wissenschaftlichen Werkes hinüberzuführen.

      Dazu würde mehr Wissen und wohl auch mehr Lebenszeit gehören, als mir, als (vorderhand) irgendeinem Einzelnen zur [24]Verfügung stehen. Denn es wird sehr viel Facharbeit auf verschiedensten Gebieten zu leisten sein, Germanisten und Romanisten, Anglisten und Slawisten, Historiker und Nationalökonomen, Juristen und Theologen, Techniker und Naturwissenschaftler werden in Exkursen und ganzen Dissertationen sehr viele Einzelprobleme zu lösen haben, ehe ein mutiger und umfassender Kopf es wagen darf, die Lingua Tertii Imperii in ihrer Gesamtheit, der allerarmseligsten und allerreichhaltigsten Gesamtheit, darzustellen. Aber ein erstes Herumtasten und Herumfragen an Dingen, die sich noch nicht fixieren lassen, weil sie noch im Fließen sind, die Arbeit der ersten Stunde, wie die Franzosen so etwas nennen, wird doch für die danach kommenden eigentlichen Forscher immer seinen Wert haben, und ich glaube, es wird ihnen auch von Wert sein, ihr Objekt im Zustand einer halb vollzogenen Metamorphose zu sehen, halb als konkreten Erlebnisbericht und halb schon in die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Betrachtung eingegangen.

      Doch wenn dies die Absicht meiner Veröffentlichung ist, warum gebe ich dann das Notizbuch des Philologen nicht ganz so wieder, wie es sich aus dem privateren und allgemeineren Tagebuch der schweren Jahre herausschälen läßt? Warum ist dies und jenes in einem Überblick zusammengefaßt, warum hat sich zum Gesichtspunkt des Damals so häufig der Gesichtspunkt des Heute, der ersten Nachhitlerzeit gesellt?

      Ich will das genau beantworten. Weil eine Tendenz im Spiel ist, weil ich mit dem wissenschaftlichen Zweck zugleich einen erzieherischen verfolge.

      Es wird jetzt soviel davon geredet, die Gesinnung des Faschismus auszurotten, es wird auch soviel dafür getan. Kriegsverbrecher werden gerichtet, »kleine PG.s« (Sprache des Vierten Reichs!) aus ihren Ämtern entfernt, nationalistische Bücher aus dem Verkehr gezogen, Hitlerplätze und Göringstraßen umbenannt, Hitler-Eichen gefällt. Aber die Sprache des Dritten Reichs scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen. Wie viele Male zum Exempel [25]habe ich seit dem Mai 1945 in Funkreden, in leidenschaftlich antifaschistischen Kundgebungen etwa von »charakterlichen« Eigenschaften oder vom »kämpferischen« Wesen der Demokratie sprechen hören! Das sind Ausdrücke aus dem Zentrum – das Dritte Reich würde sagen: »aus der Wesensmitte« – der LTI. Ist es Pedanterie, wenn ich mich hieran stoße, kommt hier der Schulmeister ans Licht, der in jedem Philologen verborgen kauern soll?

      Ich will die Frage durch eine zweite Frage bereinigen.

      Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? Waren es Hitlers und Goebbels’ Einzelreden, ihre Ausführungen zu dem und jenem Gegenstand, ihre Hetze gegen das Judentum,

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