Solo für Schneidermann. Joshua Cohen
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und die Antwort bekam, B und C wären zwar Töne, N aber nicht, deshalb hätten sie die Idee fallengelassen, was ich erst später erfuhr, und dann entschieden sie sich für den C-Dur-Akkord, wie mir mein Musikwissenschaftlerfreund in Basel erklärte, eine nachhallende Lösung, fand er, kraftvoll, friedlich, aber Schneidermann sagte ich nur (da ich das alles noch nicht wusste, sondern mir nur wegen der Entlehnung, egal ob bewusst oder unbewusst, Sorgen machte):
Das ist die Musik eines amerikanischen Unternehmens! Die hetzen dir ein Rudel Anwälte auf den Hals, und dann musst du Haare lassen!
Schneidermann zu mir: Ich bin kahl, und das ist Musik. Das gehört der Musik.
Aber das ist so leicht zu erkennen! als Komponist kannst du das nicht verwenden! als ästhetische Entscheidung ist das unentschuldbar! Es ist sogar in derselben Tonart, Oktave, alles. N. – sang ich (asthmatisch nachäffend) – B. C. Herrgott, die treiben dich in den Bankrott!
Schneidermann zu mir: Ich bin schon bankrott.
Schneidermann, er war kahl, ja, und schon bankrott, ja, immer, lebenslänglich, ja, das stimmt, und er hatte zwar einen Fernseher, einen alten Zenith, und der lief auch den ganzen Tag (wenn ich seine Kabelrechnung zahlte), aber Schneidermann, er schaltete ihn immer stumm, ob nun den WETTERKANAL oder QVC, wie das Kürzel am Ende philosophischer Traktate, woher hätte er das also wissen sollen? so kahl, dass man, wenn er unperückt und enthutet war, nicht sagen konnte, wo der Schädel aufhörte und der Himmel anfing, so bankrott, dass er Schuhe Marke Joe the Turk von der Heilsarmee trug, drei Größen zu lang und zwei zu breit, die ihm auf Schritt und Tritt vom Fuß fielen: auf dem Weg zur U-Bahn, zum Bus Nummer M-weiß-ich-nicht-mehr, wenn seine Haltestelle 137th Street / City College wieder mal nicht befahren wurde, was oft der Fall war,
den ganzen Weg lang, auf dem Weg ins Kino, der Bus M5 oder 11 fuhr zu den amerikanischen Matineefilmen, und im Kino hab ich Schneidermann das letzte Mal gesehen: das war wie immer im Kino, wie immer bei einer Matinee, nicht oben auf der Leinwand, sondern zwei Plätze weiter, dem übernächsten Sitz, unsere Jacken fehlgeleitete, nutzlose, von Sperma dampfende Ergüsse in der Mitte, auf dem einen Platz zwischen uns, frei oder nur von meinem Pelz und seinem Fetzen besetzt, aus beiden stieg klamme Feuchtigkeit auf; dass wir eine kaputte Sprungfeder auseinander saßen, war Tradition, war Norm geworden,
das gute alte, welche Exfrau benutzte noch diese umgangssprachliche Kurzform der Versicherung des nach guter alter Gewohnheit,
wenn wir einen Sitz auseinander saßen, konnten wir zusammen sein, wenn es nicht peinlich war, und auseinander, wenn es peinlich wurde (Liebesszenen, Sexszenen, Szenen mit Liebe & Sex, Sodomieszenen, die Szene, wo der Jugendliche seinem alten Cockerspaniel einen Rasenmäher in den Anus rammt),
das war unsere Gewohnheit, zwei alt gewordene Genies der Krankenscheinwerfer kuschelten sich aneinander, wenn unser Anstandsgefühl das erlaubte, und sahen diesen Film, verfolgten diesen einen letzten Matineefilm genauso wie alle anderen, die wir zusammen in den fast fünfzig Jahren gesehen hatten, die Schneidermann und ich zusammen ins Kino gegangen sind und in denen wir alles gesehen haben (Dreck),
gesehen haben müssen (Müll),
das war unser Ding,
diese Matineefilmbesuche, Schneidermann und ich waren vor allem anderen (zusätzlich zu und neben uns als Musikern, Künstlern, Genies, Amerikanern, Europäern, Juden) Matineefilmbesucher – Matinee kommt zumindest laut Schneidermann aus dem Französischen, man besucht also in Europa eine Matinee am Morgen im Gegensatz zu einer amerikanischen Matinee am Nachmittag oder einer Soiree am Abend (in meinem Penthouse im Grand, amerikanischer Whiskey, spanglischer Turn-down-Service),
Matinee kommt vom französischen matin und bedeutet Morgen, wie Schneidermann mir nur einmal und nebenbei eines Junitages um die Matralia herum mitteilte, zufälligerweise nach irgendeinem Matineefilm nach vielleicht fünfundzwanzig unserer insgesamt fünfzig Jahre, matin aus dem Altfranzösischen, sagte Schneidermann, matines bedeutet Morgen, aber einen älteren Morgen, außerdem das erste Offizium mit Laudes des Tages, die erste kanonische Stunde der sieben kanonischen Stunden des immerwährenden Kirchentages, was genau währt da eigentlich immerzu? Morgendämmerung, Sonnenaufgang, obwohl Schneidermann und ich ja immer nach dem Mittagessen (manchmal französisch, manchmal italienisch oder Feinkost, nationalhebräische Hotdogs oder die Folterpampe von Brezeln auf salzloser Straße) matinierten oder matineefilmierten,
das Französisch geht, Schneidermann zufolge an jenem Juninachmittag, zufälligerweise um die Matralia herum, worauf Schneidermann mich später, nach diesem Matineefilm nach den ersten fünfundzwanzig Jahren, hinwies, auf lateinisch matutinus oder matutinae zurück: die Morgenwachen zu Ehren der Matuta, der römischen Göttin der Frühe, Schutzpatronin, falls Sie das nicht gewusst haben sollten, der Neugeborenen, der Meere wie dem Atlantik und der Häfen wie dem von New York, zumindest laut Schneidermann, aber der Begriff der Matinee muss, als er aus dem alten Rom nach Frankreich gewandert und dann durch den Atlantik geschwommen ist, etwas Zeit verloren haben und bezieht sich in den Ver. St. von Am. heute auf den Nachmittag – und Schneidermann, na, der ging einfach in der Mitte, in der Mitte oder grob um die Mitte dieses letzten Matineefilms von fast fünfzig Jahren unserer Matineefilme (Aberhunderte! Abertausende!), Schneidermann, er stand einfach auf und ging mitten im Film, im Lauf des Lebens dieses Films, im Lauf der Leben dieses Films, nach vielleicht einer Stunde und ein paar Minuten,
sagen wir achtzehn, sagte ich bei der Polizei dann aus,
gegen 16.00 plus/minus Werbung, Trailer und MGM-Leo, Metro-Goldwyn-Mayer, der sternenumzingelte Löwe Samsons, der ihr Motto rausbrüllte, das Schneidermann liebend gern anzweifelte, bei dem er sich ständig unsicher war, dieses ARS GRATIA ARS-Spruchband um den Filmstreifen herum, dem Schneidermann zustimmen musste, wie denn auch nicht? bei den Zahlen? Von wegen Copia iudicium saepe morata meum est, verstehen Sie? Auf Befragen gab Schneidermann oft zu, bei all diesem Kunst um der Kunst willen, l’art pour l’art, art for art’s sake, das nicht mal berühmtes antikes Latein war, sondern bloß eine moderne Übersetzung von irgend so ’nem MGM-Platzhirsch, Schneidermann, er wollte immer noch ein Purist sein, das war sogar sein größter Ehrgeiz, denn mal im Ernst, glaubt denn irgendwer, die größte Kunst wäre die, die sich selbst dient? und nur sich selbst? Schneidermann, der hat sich das immer gefragt und nicht nur sich selbst, glaube ich, und geantwortet hat er mit Ovid: spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsae und so weiter, die wollen sich nicht nur was anschauen, die wollen selbst gesehen werden, Schneidermann, er hat nie wir gesagt – das ist drei Wochen her, und ich dachte, Schneidermann, er wollte nur pissen gehen (sein Pissorgan machte ihm immer Scherereien, oft pisste er einfach in seinen leeren Mineralwasserbecher – an den Imbissständen waren wir Stammkunden; ich flirtete immer mit den Verkäuferinnen, die den stärksten Bräunungslack trugen),
vielleicht hab ich mir auch gesagt, er würde um eine weitere Gratisportion Popcorn oder ein Mineralwasser non gassata feilschen, wollte flüssigen Nachschlag (Schneidermann, er frequentierte immer die Getränkestände und das mit meinem Geld; für ihn war das kostenlose Nachfüllen Amerikas größter Beitrag zur Weltkultur, und nichts liebte er so wie die Wendung KAFFEETASSE OHNE BODEN),
aber Schneidermann, er kam nie zurück, verschwand einfach, ward danach oder seither weder gesehen noch gehört, sein Apartment – wenn man das Apartment nennen konnte; seine Einzimmerwohnung, sein Kabuff – blieb unangetastet, und ich glaube nicht, dass ich zum Signieren, zu Interviews und Fototerminen aufs Revier geschleift wurde.
Wurde