Solo für Schneidermann. Joshua Cohen
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einer improvisierten Geschichte, einer angepassten Aufzeichnung, die mich beinahe, aber nicht ganz gegen jegliche Romantik einnahm, meine geliebte Romantik – denn das müssen Sie verstehen: Wenn die Welt romantisch ist, ist die Kunst klassisch und umgekehrt, und Romantik und Kunst halten sich selbst jeweils für das Gegenteil, lesen Sie Ihren Nietzsche mit Sonnenbrillen, die für Sie nicht verschreibungspflichtig waren, wohl aber für Schneidermann:
der, obwohl er eine Brille dringend gebraucht hätte, Schneidermann, er besaß nie eine und trug auch keine, bis auf einmal die verspiegelte Panoramabrille, die er verschmäht hatte, und in den letzten ein oder zwei Jahren trug er bei den Matineefilmen eine Vergrößerungsbrille aus dem Drugstore,
Schneidermann, er hatte ein brillantes Gedächtnis, weil sein Sehvermögen so schauderhaft war, Schneidermann, er erinnerte sich an alle Vorläufer oder behauptete das jedenfalls, die Vorboten, und sah doch nichts kommen, blind für das Schwarzweiß,
und taub, kaum zu fassen, aber selektiv taub, was wir Musiker schon allein wegen der Trommelwirbel sein müssen,
dem Marsch ins Märchen,
nichtsahnend oder wie vor den Kopf geschlagen, glaube ich, von all diesen dürftigen und depperten Orchestrierungen, Zwischenspielen, Intermezzi und Ouvertüren der Weltgeschichte im improvisierten Stil:
ein einziger Egoist, der sein Solo auf dem Instrument der Menschheit spielte
oder drauflossägte? wie ein Zauberkünstler?
ein Solist, der alle Aufmerksamkeit an sich riss, sich weit über die anderen stellte, im Stil einer Improvisation mit uns allen spielte und nicht nur das: er improvisierte wirklich,
erfand,
spielte aus dem Stegreif und mit allen Wendungen: Zusammentreiben, Deportation, Selektion, Invasion, Okkupation, Massenmord und so weiter und so fort weit nach Polen hinein,
ein Mann, der von der eigenen Bedeutung erfüllt war, eine kleine Ewigkeit lang mit unausstehlicher Verve die Weltgeschichte improvisierte, mit einem unglaublichen, beneidenswerten technischen Apparat, Virtuosität bis zum Überdruss, ein solcher Überfluss an Brillanz, dass das Verhängnis seinen Lauf nahm – denn haben Sie nicht das Gefühl, nicht Sie, antworten Sie nicht, dass manche Epochen, manche Zeitalter spontan zusammengeschustert werden? extemporiert und man wird nur noch benutzt, gekrümmt, verbogen? wir, ich und Schneidermann, waren hohe Noten in Hitlers Improvisationen,
in der Geschichtskadenz eines Europäers, in dessen weltweitem Konzert die verwegenen oberen Spektren der obersten Tessitur – obwohl Schneidermann, er ist in den Lagern gewesen, ist durch alle Lager gekommen, Lager für Lager für Lager für Lager, und ich, ich bin durch Amsterdam und London gekommen, habe letztlich nichts durchgemacht,
während Schneidermann in neuneinhalb Höllen hinabfuhr, begleitet nicht von Zugtrompeten oder Ventilposaunen (b-Moll), sondern nur von seiner blechern klingenden Damalsfrau und ihren Damalstöchtern; fuhr ich nur mit meinem sterbenden Vater – der nicht mal mein Vater hätte sein sollen – in diese Welt hinab, die wir Amerika nennen, ja, in den 1950ern landete ich im Fegefeuer mit all seinen Annehmlichkeiten, während Schneidermann die totale europäische Bildung zu spüren bekam; ich sammelte und speicherte nur, was ich konnte, während mein Vater, er,
seit ich drei war, brachte mein Vater und nicht mein Schneidermann mich von der Stunde nach Hause zur nächsten Stunde und nach Hause zur nächsten Stunde und nach Hause, und seit ich sieben war, seit meinem halb- oder viertelöffentlichen Konzertdebüt in Budapest, wo ich im Kasino der Leopoldstadt für meinen musikalischen Vetter Ziggi einsprang und dafür eine Gage von zehn Goldstücken zu je zehn Kronen bekam (fünf gingen an Ziggi),
wurde ich von zu Hause zur Stunde zum Konzert nach Hause zur nächsten Stunde und zum nächsten Konzert und nach Hause und wieder zur Stunde und zum Konzert geschleppt und fand daher nie die Zeit – nicht einmal während der Reisen, nicht einmal während meiner späteren Wanderjahre als Virtuose, neben all meinem sexuellen Messianismus, den obligatorischen Besichtigungen, Audienzen und Interviews – für ein ernsthaftes, wohlüberlegtes und stilles Studium der Vergangenheit, um die Zukunft kennenzulernen, für ein wahres Lernen, das nicht nur mit vier Saiten und einem Bogen zu tun hatte (Chaucer habe ich beispielsweise erst mit siebenundfünfzig gelesen, in scheckigen Imbissen im Mittleren Westen, Celans Gedichte, die Schneidermann mir empfohlen hatte, habe ich erst mit sechzig entdeckt, in einem Taschenbuch mit Übersetzungen in einem Buchsupermarkt in Midtown für 17,95 Dollar),
keine Zeit für echte humanistische Bildung, so dass ich eigene Humanität hätte ausbilden können, und darum verdanke ich alles, was ich weiß, den Erfahrungen Schneidermanns, der als Komponist gezwungen war, sich die Musik wie das Leben mühsam anzueignen,
der sich Musik und Leben mühsam aneignen musste, um zu überleben,
der von Polen angeeignet wurde, während ich mich nach Amerika einschiffte,
und alles, was ich weiß, ist auf die Schnelle erworbenes Hörensagen:
Klatsch & Tratsch, Aufgeschnapptes aus x-ter Hand, Lügen & Prophezeiungen, Kondolenzen, Konfessionen & Komplimente,
meine Menschenkenntnis lässt sich auf die Kenntnis schmutziger Witze, dreier Rezepte und des Totengebets eindampfen, mein Hebräisch ist das Jiddisch eines reformierten Idioten, und auch wenn ich etwas von der Welt gesehen habe,
aus Polen fast bis zu den Polen gereist bin und von Warschau bis ins texanische Warsaw an der Route 148,
weiß ich nichts; und auch wenn ich vielerorts für eine Inkarnation gehalten werde, einen Mandarin der Mandarine, bin ich nur ein Mann, der gelebt hat, der ein leichtes Leben hatte, der (nichts) überlebt hat,
und der leicht überlebt hat (denn da war ja nichts),
der sein Ohr und sein Hirn aufgesperrt hat
und auch den Mund nach poulet frites in Paris, ich habe in Berlin Kaffee getrunken, in Prag guláš gegessen und in Moskau БОРЩ (jahrelang waren Speisekarten meine einzige Lektüre),
ja, ich habe Mund und Ohr für unbeholfenes Hebräisch aufgesperrt, unflätiges Jiddisch, förmliches Deutsch, musikalisches Französisch und Italienisch, ich verfüge über das ungrammatische Ungarisch eines Zehnjährigen, denn mein Gedächtnis,
vereinzelte Brocken Tschechisch / Slowakisch / Polnisch / Panslawisch dank Russischschnipseln, egal, diese Sprache und meine wahre Muttersprache, die Musik – Musik als die wahre lingua franca der Welt, während mein Latein wie ARS GRATIA ARTIS bestenfalls auf naheliegenden Vermutungen beruht, mein Griechisch so schändlich ist wie meine Kenntnis Shakespeares, den ich erst mit dreißig im Original gelesen habe (als ich mit einer Schauspielerin schlief, die Cordelia im Park vermurkste, wo,
aber ich konnte nicht
mein Herz auf meine Lippen heben), so dass Schneidermann beispielsweise Hesiod für mich übersetzen musste, der lehrt, dass Orpheus, er war der Sohn einer Muse:
Für mich war ihr Name einst Eva und heute Abend María und Frieda und Jadwiga, Akira und Naomi und,
Orpheus und ich, liederliche »Väter der Lieder«,
um Pindar zu glossieren, aber von dem wollen