Lichter als der Tag. Mirko Bonné

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Lichter als der Tag - Mirko Bonné страница 4

Автор:
Серия:
Издательство:
Lichter als der Tag - Mirko Bonné

Скачать книгу

kurze Beine und dünnes Haar hatte, der die Frauen aber wie magnetisch anzog und auch ihm auf unerklärliche Weise ans Herz gewachsen war, um Verzeihung.

      »Vertrauen, schon mal davon gehört? Könnte auch dir gefallen, Herr Merz!« Bruno boxte ihn mitten im Konferenzraum lachend auf den Oberarm. Es tat lange weh.

      Seither machte er dem Freund nichts mehr oder kaum noch etwas vor. Bruno erfuhr entweder alles oder nichts von ihm. Sie redeten viel miteinander, am meisten über Fußball und Musik. Merz erzählte ihm von dem Licht und davon, was es ihm bedeutete. Er erzählte von der Feldmark und dem wilden Garten. Sogar von Moritz und Inger erzählte er. Bruno schilderte dafür ihm, was er an dieser oder jener Frau mochte und wie er sie erobert hatte oder von ihr erobert worden war – was gar nicht selten passierte. Nie äußerte er sich abfällig über eine Liebschaft.

      Sie flachsten, sie schwiegen, sie lachten und betranken sich miteinander, aber sie konnten auch ernst sein, über Filme reden, alte oder neue, den unüberwindbaren Graben, der die späten von den frühen Genesis trennte, den Irrsinn der Sportler, den Irrsinn der Politik, den Irrsinn der Leute, und manchmal wusste Merz: Gab es einen Mann, mit dem er zusammen weinen könnte, weinen über den Irrsinn der Welt oder den Irrsinn des eigenen Lebens, dann war es dieser so lebendige Bruno, der unverheiratet war und keine Kinder hatte, der in einem klimatisierten Dreizimmerappartement in einem Hochhaus mit Portier am Elbufer wohnte und dort von einer Liaison zur nächsten schlitterte.

      An den Landungsbrücken lag die Kruzenshtern. Merz traute zunächst seinen Augen nicht, aber dann erkannte er am Heck den Namen des russischen Viermasters, schwarzweiß hob sich der Rumpf der alten Padua vom Blau der Elbe ab. Als Junge hatte er ein großes Plastikmodell des Segelschulschiffs zusammengebaut und bemalt, viele Monate lang hatte der Windjammer seine Fantasie beschäftigt, aber das wirkliche Schiff gesehen hatte er nie. Mit einem Mal, vierzig Jahre später, lag es vor ihm.

      Als sie durch die Speicherstadt zum Tag zurückgingen, jeder sein Sakko überm Arm und im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen, erzählte er von dem vormittäglichen Flashmob und sagte, wenn er sich nicht täusche, habe er eine früher mal ziemlich enge Freundin im Hauptbahnhof gesehen.

      »Hm. Wie eng?«, fragte Bruno.

      »Sehr eng«, sagte Merz.

      »So eng?« Bruno presste Daumen- und Zeigefingerkuppe fest aufeinander.

      »Enger«, sagte Merz.

      Ingers Namen gab er lieber nicht preis, und das Mädchen verschwieg er ganz.

      Die vier Wörter auf dem Transparent stammten tatsächlich aus einem 375 Jahre alten Sonett aus dem Barock. »Es ist alles eitel« hieß das Gedicht von Andreas Gryphius, und auf der Kopie, die ihm Bruno auf den Schreibtisch legte, las Merz noch am selben Nachmittag den ganzen Vers: »Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten, / Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind.«

      Am Abend nahm er seinen Mut zusammen und erzählte Floriane gleich beim Nachhausekommen von der morgendlichen Begegnung. Ihre ältere Tochter Priska deckte im Esszimmer den Tisch, Flori verschloss ihm mit dem Zeigefinger die Lippen, aber kaum waren sie in der Küche allein, forderte sie ihn auf zu erzählen, und er beschrieb ihr sogar die Blicke, mit denen Inger ihn, wie er meinte, in der Hauptbahnhofwandelhalle verfolgt hatte.

      Floriane fragte: »Du bist aber nicht zu ihr hin und hast mit ihr geredet, oder doch?«

      Merz tat und war ja auch entrüstet: »Natürlich nicht!«

      Dann kam Priska in die Küche zurück, und sie unterhielten sich über Lindas Klassenreise, über seine berufliche Fahrt mit Bruno DeWitt in der folgenden Woche und darüber, dass es von Stuttgart ins Kinzigtal gar nicht weit war. Er könne, sagte Merz, die kleine Maus glatt besuchen fahren.

      Die Johannisbeerbüsche litten furchtbar unter der Hitze, meinte Floriane. Sie hielt es für besser, wenn der Rasensprenger über Nacht anblieb. Merz fragte, wann mit einer Nachricht von Lindys Klassenlehrerin zu rechnen sei, bekam aber keine Antwort.

      »Wie groß Pippa geworden ist«, sagte er, sobald Priska wieder im Flur verschwunden war.

      Von Floriane kam bloß ein Atemgeräusch.

      »Ich hab sie zuerst gar nicht erkannt.«

      Von Flori kam nichts mehr.

      Erst nach einer ganzen Weile sagte sie, und er hörte an ihrer dunklen Stimme, dass sie aufgebracht war: »Bitte Themenwechsel. Ich kann, ich will, ich werde mich damit nicht abgeben. Gott! Du glaubst ja nicht, wie ich juble, sollte es jemals wieder kühler werden.«

      Sie aßen. Während Priska von ihrem aufregenden Tag erzählte – ihre und die Parallelklasse hatten offenbar den Flughafen besichtigt –, sah Merz in den Garten hinaus, wo Hecken, Sträucher und die Pergola in ein fast goldenes Licht getaucht waren. Noch abends lag das hochsommerliche Flirren der Hitzenachmittage in der Luft, und auch heute wieder sah man nirgends einen Vogel, ganz als wären sie alle längst verdurstet, die Tauben, die Meisen, die Amseln. Wo waren die Johannisbeeren? Rot wie roter Nagellack, dachte Merz. Und die Blätter alle welk, ausnahmslos. Es wird nichts mehr jemals wieder gut. Man kann es aushalten, ich kann es aushalten. Aber gut, gut wird es nie wieder, alles kaputt, alles vor langer Zeit kaputtgegangen, und das Einzige, was ich machen kann, ist, es zu vergessen und so zu tun, als wäre es anders.

      Die Traurigkeit hatte seit dem Morgen auf der Lauer gelegen, jetzt witterte sie ihre Gelegenheit und kam heran; er schenkte sich Wein nach.

      Seine Frau und seine Tochter unterhielten sich. Er war in Gedanken, hörte nicht zu, verstand daher nicht, wovon sie redeten.

      »… und dann habt ihr alle angefangen zu tanzen, einfach so?«, fragte Floriane. »Auch die Jungs?«

      Prissy strahlte. Sie spießte eine Nudel auf, drehte die Gabel in der Luft und ließ die Nudel ein paar Mal hin und her tanzen und Kreise beschreiben.

      »Ja! Alle!«, sagte sie begeistert. »Erst standen wir nur so im Terminal rum und taten, als würden wir einchecken oder jemanden abholen. Ein paar von uns hatten sogar Rollkoffer oder Rucksäcke mit. Und die Lehrer einen CD-Player. Pünktlich um zehn stellten sie ihn an. Sehr laut! Mitten im Terminal. Dazu hatten wir die Erlaubnis. Und alle haben wir losgetanzt, wild durcheinander, einige das, was sie in der Tanzschule lernen, die meisten so wie ich einfach nur so. Und alle Fluggäste an den Schaltern und die Stewardessen, die vorbeikamen, alle kriegten sie solche Augen!«

      »Was ihr euch ausdenkt«, sagte Floriane. »So was wäre uns nie eingefallen. Oder?« Sie sah ihn an; sie lächelte, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Es war kein wirkliches Lächeln, sondern die Maske, die Frau Dr. Lepsius täglich acht Stunden lang in ihrer Praxis trug, damit niemand ihr Gesicht sah, ihre Müdigkeit und ihr Befremden.

      Stumm schüttelte er den Kopf. Was Flori gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Doch er war zu erschöpft für ein Wortgefecht. So manches war ihnen eingefallen, gerade Flori, die sich von Lehrern oder Profs nie hatte etwas vorschreiben lassen, und so lange her war das alles noch gar nicht. Allerdings hatten auch sie zum Glück nicht in die Zukunft sehen können.

      Priska sprach aus, was ihr Vater dachte: »Früher gab es nun mal keine Flashmobs. Da gab es andere Aktionen in der Öffentlichkeit. Demos, klar. Aber auch von Künstlern organisierte Happenings zum Beispiel. Oder politische Sit-ins.«

      »Und jede Menge anderen Kram«, sagte Floriane.

      Selbst schuld, wenn du eine Zahnärztintochter heiratest, dachte

Скачать книгу