Lichter als der Tag. Mirko Bonné

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Lichter als der Tag - Mirko Bonné

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der er schon seit Wochen schrieb. Die Landschaftsmalerei der Schule von Barbizon, zum Verzweifeln. Viel zu lange hatte er die notwendigen Recherchen vor sich hergeschoben.

      »Ich lebe eigentlich Mitte des 19. Jahrhunderts«, sagte er. »Und um mich rum«, er breitete die Arme aus, »das kann nur der Wald von Fontainebleau sein.« Bruno stand auf. »Ich sehe ständig Felder vor mir, einen Hohlweg oder eine Baumgruppe, und zugleich weiß ich, die gibt es bloß auf alten Gemälden, bei Daubigny und Rousseau. Wie Gott sie schuf, liegt nachts die entzückendste Frau neben mir, und was mache ich? Ich denke nach über Antoine Chintreuils Wolken.«

      »Du findest Fritzi Feddersen entzückend?« Merz war fassungslos. »Das meinst du nicht im Ernst. Sie ist keine Frau, sondern unsere Justiziarin.«

      »Sie ist beides, Raimund Merz.«

      Nur selten war Bruno derart humorlos. Seufzend verschwand er nach drinnen zur Toilette, und sofort schraubte Merz den Aschenbecher auf, um nachzusehen, was darin qualmte, »pöserte«, wie man in Hamburg sagte. Die Namen der Maler, die Bruno erwähnt hatte, schwirrten ihm wie Möwen durch den Sinn, für ein paar Augenblicke bedauerte er, dass er weder von Daubigny oder Rousseau noch von diesem André oder Antoine Chintreuil irgendein Gemälde kannte. Der Wald von Fontainebleau. Wo lag der?

      Aus dem Ascher kam der Gestank nicht. Er war mit Chromlack überzogen, Merz sah sein Gesicht darin gespiegelt, das Himmelsblau und tatsächlich Wolken. Er tauchte eine Fingerspitze in den grauen Puder zwischen den Kippen; und wie früher, als wäre er wieder sechzehn, bestrich er sich einem plötzlichen Impuls folgend mit der Asche links und rechts die unteren Lider, so wie manchmal mit Moritz in der Pause auf dem Schulhof, wenn sie einen ihrer Lehrer hatten verunsichern wollen. Bruno kam zurück, er setzte sich. Merz nahm die Hand von den Augen und betrachtete den Freund, mit möglichst mattem Blick, wie ein Gespenst im hellblauen Hemd.

      »Na und, sie ist Justiziarin, Himmel. Und lass du dir gesagt sein, es ist nur gerecht, dass ein so wundervolles Wesen wie Fritzi Feddersen auf dieser gegen die Wand gefahrenen Welt lebt. Denn ohne Menschen wie sie wäre das Leben … – meine Güte, du siehst ja aus wie der Tod!«

      Kein Wunder. Wenn er je gelebt hatte, war das lange her. Wäre er aufrichtig gewesen, hätte er das zu Bruno sagen müssen. Stattdessen blickte er ihn aus vorgetäuscht tiefen Augenhöhlen nur an. Merz lächelte erschöpft. Er litt.

      Wenig später war er für den Rest der Bürowoche entschuldigt. Melly, der Sekretärin, musste er versprechen, sofort zu seinem Hausarzt zu gehen. Er spürte die mitleidlose Neugier seiner Kollegen, die ihm alles Gute wünschten, ohne zu wissen, was das war. Bruno legte ihm den Arm um die Schultern. Das zum Beispiel! Er brachte ihn nach unten vor die Tür, wirkte nachdenklich und war einsilbig, und Merz wusste – oder ahnte –, warum. In vier Tagen sollten sie zusammen nach Stuttgart fahren, damit Bruno in der Staatsgalerie den Kurator einer Ausstellung interviewte und sich für die Reportage ein paar Gemälde ansah. Impressionisten. Der Kurator, Kullmann, war angeblich eine Ausnahmeerscheinung, jung, omnipräsent, dabei alles andere als ein Karrierist. An ihrem letzten Abend würden sie sich außerdem das Pokalspiel des HSV bei den Stuttgarter Kickers ansehen. Die Kickers waren zwar nur ein Viertligist, doch dort einen hohen Sieg einzufahren würde den Hamburgern nach einem verhunzten Saisonauftakt vielleicht Auftrieb geben. Nach Brunos Ansicht wäre alles andere lachhaft, rein zum Weinen.

      Außer zu einem Spiel zu gehen, das ihn nicht sonderlich interessierte, hatte Merz in Stuttgart eigentlich nichts zu tun. Er machte keine Fotos, kannte sich mit Aufnahmegeräten nicht aus, hatte für Museen noch nie besonders viel übriggehabt, und auch Schwaben oder Baden, der Neckar und die Kinzig waren ihm schnuppe. Er würde auf dieser Reise überflüssig sein, obwohl kaum überflüssiger als sonst. Weder hatte er eine Aufgabe noch irgendeine Funktion, außer Herrn DeWitt zu begleiten. Der hatte darauf bestanden, dass Merz mitkam, und selbst die Stadionkarten hatte er Melly als Spesen untergejubelt.

      »Also Montag?«, fragte Bruno und sah dem Freund tief in die aschgrauen Augen.

      »Tue mein Bestes«, sagte Merz schwach. »Fritzi Feddersen und unsere gegen die Wand gefahrene Welt, das muss ich erst verkraften.« Damit ging er. Aber er hob noch kurz die Hand und rief Bruno zu: »Wir sehen uns Montagmorgen am Bahnhof. Gespenster halten Wort.«

      Floriane schrieb er, dass er sich den Nachmittag frei genommen hatte und spazieren ging, in Planten un Blomen oder auf dem Friedhof Ohlsdorf. Vielleicht sah er in der Staatsbibliothek vorbei.

      In den vergangenen Jahren hatte er für den Tag einige Artikel über neueste Erkenntnisse der Insektenforschung geschrieben, die von der Verlagsleitung und von Chefredakteurin Mareike Kennedy gut aufgenommen worden waren. Ein renommierter Hamburger Wissenschaftsverlag hatte daraufhin den Kontakt zu ihm gesucht und erwog offenbar ernsthaft, seine entomologischen Elaborate in Buchform herauszubringen. Niemand außer Flori und Bruno wusste davon.

      »Bin am Abend zur üblichen Zeit zu Hause«, schrieb er, aber wie in letzter Zeit üblich antwortete Floriane nicht.

      Er nahm die U-Bahn zu der Station, an der sein Wagen stand. Mit dem Phoebus fuhr er dann aber nicht nach Westen, wo sie wohnten, sondern quer durch die Stadt in die entgegengesetzte Richtung, über die Uhlenhorst, durch Winterhude, Alsterdorf und Ohlsdorf hinauf ins Alstertal.

      Nördlich des Parkfriedhofs war die Alster ein schmales Flüsschen und schlängelte sich durch schattige, am Nachmittag menschenleere Auenwälder hinunter zur Innenstadt. Unter Sommereichen unweit des Ufers parkte er so, dass er jede Schülerin, die aus dem Haupteingang ins Freie kam, genau sah, dabei aber selbst unbemerkt blieb. Er tat, worin er Fachmann war, er verhielt sich vollkommen unauffällig. Ein Mann, um die fünfzig, an sein Auto gelehnt. Er tat, als würde er telefonieren, er, der seit Jahren nicht mehr telefonierte. Auf dem Display rief er eine Landkarte von Frankreich auf und zoomte sie groß. Von Besançon ging es nach Nordwesten, vorbei an Dijon, Auxerre und Montargis Richtung Versailles. Zwischen Nemours und Évry lag der Wald von Fontainebleau.

      Er hatte Zeit. Fünfzehn Jahre lang hatte er auf diesen Tag hingelebt, still und so heimlich, dass er es beinahe selber nicht wusste, und deshalb wartete er gleichmütig, jedenfalls ohne nervös zu werden, ja im Grunde kaltblütig zweieinhalb Stunden lang vor der Andreas-Gryphius-Schule, bis Pippa herauskam.

      Allem Anschein nach hatte sie Sport gehabt: Ihre Haare waren noch nass vom Duschen. Sie war nicht allein, zusammen mit sechs oder sieben Mitschülerinnen, die alle eine Sporttasche abstellten oder fallen ließen und die alle ähnlich dürr, ähnlich langhaarig und ähnlich hübsch waren, stand Pippa im goldengrünen Licht unter den Bäumen vor dem Schulpavillon und wartete, bis sie an der Reihe war, den anderen irgendein Bildchen auf ihrem Smartphone-Display zu zeigen. Alle kicherten. Sie klangen wie Vögel.

      Alle hatten sie ganz ähnliche Stimmen. Sie waren alle gleich! Aber das schien nur so. In Wirklichkeit waren sie es nicht, und in Wahrheit unterschied sich jedes der Mädchen in beinahe allem von den anderen. Alle hatten sie ihre eigene Geschichte, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte. Und alle ihr Leben vor sich. Keins würde dem anderen gleichen, auch wenn man ihnen das Gegenteil wieder und wieder weismachte. Kurz stellten sich ein paar Jungs zu ihnen. Deren Frisuren waren das einzig Auffällige an ihnen, als hätten sie blonde Helme oder Mützen auf. Schon trotteten sie weiter, linkisch und schlaksig, und Merz blickte ihnen nach, als sie auf dem Parkplatz durch die Sonne und an ihm vorbeistapften. Fast genauso alt waren Moritz, Flori und er gewesen, als damals ein dänisches Mädchen in ihr Dorf und dort zu seiner Tante zog. Ingers Eltern waren wenige Wochen zuvor beim Segeln auf der Ostsee ertrunken. Er erinnerte sich, wie sie ihm in ihrem so klaren Englisch davon erzählt hatte. Solsort hieß das Boot, auf Dänisch bedeutete das Amsel, und Inger sagte, bei jeder Amsel, die sie sah, denke sie an ihre Eltern. Sie saßen vor der Turnhalle im Schneidersitz auf dem von der Sonne aufgewärmten Asphalt und warteten auf die anderen. Inger Rasmussens Gesicht war voller Sommersprossen gewesen.

      Er

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