Ein Zimmer für sich allein. Virginia Woolf

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Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf Gatsby

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Säcke mit Gold und Silber auf den Schultern trugen, das sie in die Erde schaufelten, und wie dann die großen Finanzmagnaten unserer Zeit kamen und Schecks und Pfandbriefe vermutlich eben dort hineinsteckten, wo die anderen Barren und rohe Goldklumpen hineingesteckt hatten. All das liegt dort unter den Colleges, sagte ich, aber in diesem College, in dem wir gerade sitzen, was liegt da unter den stattlichen roten Ziegeln und dem wilden, struppigen Gras des Gartens? Welche Macht steht hinter dem schlichten Porzellan, von dem wir zu Abend aßen und (es kam mir über die Lippen, bevor ich es zurückhalten konnte) dem Rind, dem Pudding und den Backpflaumen?

      Tja, sagte Mary Seton, etwa im Jahr 1860 – Ach, aber die Geschichte kennst du doch, sagte sie, vermutlich von dem Vortrag gelangweilt. Und sie erzählte mir – Zimmer wurden angemietet. Gremien traten zusammen. Briefumschläge wurden adressiert. Rundschreiben wurden aufgesetzt. Versammlungen wurden abgehalten; Briefe wurden vorgelesen; Soundso hat soundso viel versprochen; Mr– dagegen wird keinen Penny geben. Die Saturday Review ist sehr unverschämt gewesen. Wie richten wir einen Fonds ein, um Büroräume zu bezahlen? Sollen wir einen Basar veranstalten? Können wir nicht ein hübsches Mädchen auftreiben, das in der ersten Reihe sitzt? Lasst uns nachschlagen, was John Stuart Mill[6] zu diesem Thema sagte. Kann irgendjemand den Herausgeber der – überreden, einen Brief abzudrucken? Können wir Lady– dazu bringen, zu unterschreiben? Lady– ist verreist. So lief das vermutlich ab, vor sechzig Jahren, und es war eine gewaltige Anstrengung, und jede Menge Zeit wurde darauf verwendet. Und erst nach langem Kampf und unter größten Schwierigkeiten bekamen sie die dreißigtausend Pfund zusammen.2 Also haben wir natürlich keinen Wein und keine Rebhühner oder Bedienstete, die Tabletts aus Zinn auf dem Kopf tragen, sagte sie. Wir haben keine Sofas und keine getrennten Zimmer. ›Die Annehmlichkeiten‹, sagte sie, aus diesem oder jenem Buch zitierend, ›müssen warten.‹3

      Bei dem Gedanken daran, wie all diese Frauen sich Jahr für Jahr abrackerten und es schwer hatten, zweitausend Pfund aufzutreiben, und trotz aller Bemühungen nicht mehr als dreißigtausend auftreiben konnten, brachen wir in Hohn und Spott über die elende Armut unseres Geschlechts aus.

      Was hatten unsere Mütter getrieben, dass sie uns kein Vermögen hinterlassen konnten? Sich die Nase gepudert? Schaufenster betrachtet? Im sonnigen Monte Carlo herumstolziert? Auf dem Kaminsims standen ein paar Fotografien. Marys Mutter – wenn es ein Bild von ihr war – mochte in ihrer Freizeit eine Lebedame gewesen sein (von einem Kleriker hatte sie dreizehn Kinder), aber wenn das stimmte, hatte ihr ausschweifendes und zügelloses Leben nicht allzu viele Spuren des Vergnügens auf ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war eine schlichte Person; eine alte Dame in einem karierten Schultertuch, das von einer großen Kamee zusammengehalten wurde; sie saß in einem Korbsessel und ermunterte einen Spaniel, in die Kamera zu schauen, wobei sie den amüsierten, aber angespannten Ausdruck von jemandem hatte, der weiß, dass der Hund sich bewegen wird, sobald der Auslöser gedrückt wird. Hätte sie stattdessen eine berufliche Laufbahn eingeschlagen, wäre Kunstseidenfabrikantin oder Magnatin an der Börse geworden und hätte Fernham zwei- oder dreihunderttausend Pfund hinterlassen, hätten wir heute Abend entspannt hier sitzen und über Archäologie, Botanik, Anthropologie, Physik, das Wesen des Atoms, Mathematik, Astronomie, Relativität oder Geografie plaudern können. Hätten Mrs Seton und ihre Mutter und deren Mutter die große Kunst des Geldverdienens gelernt und ebenso wie ihre Väter und deren Großväter ihr Geld zur Einrichtung von Stipendien und Professuren und Preisen und Lehrstühlen hinterlassen, gebunden ausschließlich ans eigene Geschlecht, hätten wir vermutlich hier oben alleine ein ganz anständiges Abendessen mit einer Flasche Wein und einem Rebhuhn haben können; wir hätten uns, ohne die Zuversicht überzustrapazieren, auf ein angenehmes und ehrbares Leben in der Obhut großzügig ausgestatteter Berufe freuen können. Vielleicht hätten wir geforscht oder geschrieben; hätten viel Zeit an altehrwürdigen Orten dieser Erde verbracht, gedankenversunken auf den Stufen des Parthenons gesessen oder wären um zehn in ein Büro gegangen und bequem um halb fünf nach Hause gekommen, um noch ein bisschen zu dichten. Wenn Mrs Seton und ihresgleichen allerdings mit fünfzehn eine berufliche Laufbahn eingeschlagen hätten, hätte es – das war der Haken an der Sache – keine Mary gegeben. Was, fragte ich, hielt Mary davon? Zwischen den Vorhängen stand der Oktoberabend, ruhig und lieblich, ein Stern oder zwei hatten sich im gelben Laub der Bäume verfangen. War sie bereit, auf ihren Anteil daran zu verzichten und auf ihre Erinnerungen (denn sie waren eine glückliche, wenn auch eine große Familie gewesen) an die Spiele und Streitereien oben in Schottland, das sie wegen seiner milden Luft und seiner guten Kuchen nie müde wird zu preisen, damit Fernham durch einen Federstrich mit, sagen wir, fünfzigtausend Pfund ausgestattet werden konnte? Denn ein College zu finanzieren würde die Abschaffung der Familie als solche bedeuten. Ein Vermögen zu machen und dreizehn Kinder zu gebären – kein Mensch würde das aushalten. Betrachten wir die Tatsachen, sagten wir. Zunächst sind es neun Monate bis zur Geburt des Babys. Dann kommt das Baby zur Welt. Dann vergehen drei oder vier Monate mit dem Stillen des Babys. Nachdem das Baby gestillt wurde, vergehen garantiert fünf Jahre über dem Spielen mit dem Baby. So, wie es aussieht, kann man Kinder nicht auf den Straßen herumrennen lassen. Leute, die sie in Russland wild herumlaufen sahen, sagen, der Anblick sei kein schöner. Die Leute sagen auch, dass die menschliche Natur zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr geformt wird. Wenn Mrs Seton, sagte ich, Geld verdient hätte, welche Erinnerungen hättest du dann an die Spiele und Streitereien gehabt? Was hättest du von Schottland und seiner guten Luft, den vorzüglichen Kuchen und allem Übrigen gewusst? Aber all das zu fragen ist sinnlos, denn du wärst gar nicht erst auf die Welt gekommen. Ferner ist es genauso sinnlos zu fragen, was passiert wäre, wenn Mrs Seton und ihre Mutter und deren Mutter ein großes Vermögen angesammelt hätten und es unter die Fundamente von College und Bibliothek gesteckt hätten, weil es ihnen erstens unmöglich war, Geld zu verdienen, und wenn es, zweitens, möglich gewesen wäre, das Gesetz ihnen das Recht auf den Besitz des Geldes, das sie verdienten, nicht gewährt hätte. Erst seit achtundvierzig Jahren darf Mrs Seton einen eigenen Penny haben. In all den Jahrhunderten zuvor wäre er Eigentum des Ehemanns gewesen – ein Gedanke, der dazu beigetragen haben mag, Mrs Seton und ihre Mutter von der Börse fernzuhalten. Jeden Penny, den ich verdiene, mochten sie sich gesagt haben, wird mir weggenommen und der Weisheit meines Mannes entsprechend ausgegeben – vielleicht, um in Balliol oder King’s einen Lehrstuhl einzurichten oder ein Stipendium zu finanzieren, weshalb das Geldverdienen, auch wenn ich Geld verdienen könnte, nichts ist, was mich großartig interessiert. Ich sollte es lieber meinem Mann überlassen.

      Jedenfalls, ob die alte Dame, die den Spaniel anschaute, nun schuld war oder nicht, gab es keinen Zweifel daran, dass unsere Mütter ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten aus irgendeinem Grund sehr schlecht geregelt hatten. Kein Penny konnte für ›Annehmlichkeiten‹ zurückgelegt werden, für Rebhühner und Wein, Pedell und Rasen, Bücher und Zigarren, Bibliotheken und Muße. Nackte Mauern auf nackter Erde zu errichten, war das Äußerste, was sie tun konnten.

      So redeten wir, als wir am Fenster standen und wie Tausende andere jede Nacht hinunter auf die Kuppeln und Türme der berühmten Stadt zu unseren Füßen schauten. Sie war sehr schön, sehr geheimnisvoll im herbstlichen Mondlicht. Die alten Mauern sahen sehr weiß und ehrwürdig aus. Man dachte an all die Bücher, die dort versammelt waren, an die Gemälde von alten Prälaten und Würdenträgern, die in den getäfelten Zimmern hingen; an bunte Fenster, die seltsame Kugeln und Halbmonde auf das Pflaster warfen; an die Tafeln und Ehrenmale und Inschriften, an die Springbrunnen und das Gras, an die stillen Zimmer, die auf stille Innenhöfe hinausgingen. Und (vergeben Sie mir den Gedanken) ich dachte auch an die ausgezeichneten Rauchwaren und Getränke und die tiefen Sessel und die schönen Teppiche: an die Weltläufigkeit, die Geselligkeit, die Würde, die aus Luxus, Privatheit und Platz resultieren. Mit etwas Vergleichbarem hatten uns unsere Mütter ganz und gar nicht versorgt – unsere Mütter, denen es schwerfiel, dreißigtausend Pfund zusammenzukratzen, unsere Mütter, die Klerikern von St Andrews dreizehn Kinder gebaren.

      Also ging ich in mein Gasthaus zurück, und während ich durch die dunklen Straßen lief, dachte ich über dieses und jenes nach, wie man es am Ende eines Arbeitstages tut. Ich dachte darüber nach, woran es lag, dass Mrs Seton uns kein Geld hinterlassen konnte; welche Wirkung Armut auf den Geist hat und welche Wirkung Reichtum auf den Geist hat, und ich dachte an die sonderbaren

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